Das große K. ist in mein Leben getreten!
29.07.2022
Ich will gerade die Befunde chronologisch sortieren, die Josi mir gestern Abend mitgegeben hat, da entdecke ich ein Blatt, das ich noch gar nicht kenne. Es ist ein Befund der Radiologin in Wittlich und sie schreibt, dass ein Lymphknoten „dringend verdächtig auf Metastasierung“ sei. Ich sitze im Büro an meinem Schreibtisch und halte die Luft an. Sofort spulen sich vor meinem inneren Auge Bilder ab, die ich nicht sehen will. Ich schicke Josi eine Nachricht und warte auf ihren Anruf. Sie meldet sich, als ich auf dem Nachhauseweg bin und sagt, dass sie dieses Blatt nicht gesehen hat. Sie habe sich aber in der Zwischenzeit die Ultraschallbilder angesehen und für sie sei dieser Lymphknoten völlig unauffällig. Ich bin ziemlich aus dem Häuschen. Trotzdem muss ich bis zu dem Termin im Brustzentrum warten. Warten ist meine neue Leidenschaft. Schon im „Normalzustand“ gehört Geduld nicht eben zu meinen direkten Kernkompetenzen. Und das ist noch untertrieben…
30.07.2022
Mittlerweile ist der erste Schock verflogen und ich schalte in den Überlebensmodus. Ich will überleben. Ich werde nächsten Sommer oben an der Kapelle stehen, die Arme gen Himmel recken und sagen „Ich habe es geschafft!“ Ich richte mich aus und bündele alle positive Energie, die ich in mir finde zu einem starken und strahlenden Paket. Ich werde es schaffen! Ich beginne zu planen. Was ist jetzt wichtig? Was muss jetzt warten? In meiner Firma habe ich bereits Maßnahmen eingeleitet, die es Michael erlauben, die Firma zu leiten, solange ich mich auf meine Therapie konzentriere. Ich werde aktiv. Ich lasse mich von diesem Ding in meiner Brust nicht unterkriegen! Da ist noch die Benefiz-Ausstellung von Antonio im Oktober. Ich plane gerne voraus. Da ich nicht weiß, wie es mir im Oktober – mitten in der Akuttherapie – gehen wird, muss ein Plan B her. Zwei Freundinnen werden einspringen, falls ich weder bei den Vorbereitungen mitwirken noch bei der Ausstellung selbst dabei sein kann. Ich sitze in dieser Zeit gerne in meinem Auto. Oft sitze ich stundenlang vor unserem Haus im Auto und organisiere und telefoniere. Michael bringt mir gelegentlich einen Lillet Wild Berry heraus. Aus meinem Auto heraus informiere ich Freunde über meine Krebserkrankung, plane und tue das, was ich am besten kann: Organisieren und Probleme lösen. Ich fahre auch gerne ziellos herum und höre Musik. Nachdem ich die Ausstellungorganisation gesichert habe, muss ich Antonio informieren, dass er gegebenenfalls mit Steffi und Birgit zu tun haben wird. Mir graut davor. Ich habe seit ich den Befund erhalten habe noch nicht geweint. Allerdings habe ich das deutliche Gefühl, dass sich das ändern wird, wenn ich es Antonio sage.
31.07.2022 (Sonntag)
Leider habe ich nichts in meinem Auto zu erledigen… Ich habe einen Durchhänger und liege im Wohnzimmer auf meiner wunderschönen blauen Ottomane mit Blick in den Eifeler Himmel. Es ist der erste dunkle Sonntag für mich in einer Reihe vieler weiterer. Diese Tage werden in den nächsten Monaten die schwierigen, die herausfordernden und die verzweifelsten sein. Ich denke an Antonio und frage mich, wie es ihm geht. Ich lasse die vergangenen Wochen seit April Revue passieren und denke, dass es das jetzt war. Falls da überhaupt etwas zwischen uns gewesen ist (was ohnehin total abwegig ist), das vielleicht der Beginn von etwas Wunderbarem hätte sein können, hat sich das jetzt durch meine Krebsdiagnose ohnehin erledigt. Ich bin verzweifelt. Soll ich ihm eine WhatsApp schreiben in der Art: Lieber Antonio, ich möchte Dir sagen, dass ich Brustkrebs habe. Ich haben wegen der Ausstellung… etc. etc. oder soll ich ihn anrufen? Nein, das geht doch auch nicht. „Hallo Antonio, wie geht es Dir? Gut? Das freut mich. Ach, übrigens, ich rufe an, um Dir zu sagen, dass ich Brustkrebs habe… Ja, ist doof, ich weiß…“ Ich schreibe ihm schließlich eine WhatsApp und frage ihn, wann er wieder in der Eifel sein wird. Ich habe beschlossen, es ihm nur persönlich zu sagen. Dann muss es eben solange warten, bis er sich besser fühlt und wieder in die Eifel kommt. Er schreibt , dass er hofft schon am nächsten Tag wieder hier zu sein. Eine Uhrzeit vereinbaren wir nicht. Wir haben uns nun so oft dort oben getroffen. Wir wissen, wann der andere ungefähr dort sein wird. Komisch, dass mich ausgerechnet die Aussicht, es Antonio zu sagen, emotional aus dem Gleichgewicht bringt.
01.08.2022 (Montag)
Ich laufe gemächlich mit Paula los. Mit Musik auf den Ohren. Das Stück ‚Discovery by Night’ und ‚Una Mattina‘ von Einaudi laufen in Dauerschleife. Ich laufe los, ohne zu wissen, ob er wirklich da sein wird. Er hat sich nicht gemeldet, um das Treffen zu bestätigen. Egal. Ich will ohnehin zur Kapelle. Auf halbem Weg erhalte ich eine WhatsApp mit zwei Fotos, aufgenommen oben an der Kapelle. Ich grinse in mich hinein und schicke ihm ebenfalls ein Foto. Paula. Wie sie den Weg Richtung Kapelle hochschleicht. Als ich oben ankomme, sitzt er am Wanderertisch und guckt zu den Weg hinab, den ich mich gerade nach oben kämpfe. Das letzte Stück ist ganz gemein… Ich muss ein paarmal stehenbleiben, um Paula zu beschleunigen, die ziemlich unmotiviert hinter mir herzockelt… und ich muss atmen…! Als ich oben ankomme, bin ich schweißgebadet. Antonio sieht noch schrecklich mitgenommen und krank aus, strahlt mich aber an und freut sich so offensichtlich, mich zu sehen, dass ich meine Eröffnung verschiebe. Wir sitzen uns das erste Mal seit wir uns kennengelernt haben und in seiner Küche gesessen haben, einander gegenüber. Auch schön, das Gegenüber beim Sprechen zu sehen. Auf der Wellenbank sitzen wir ja immer nebeneinander und sehen uns so gut wie nie direkt an. Wir plaudern und lachen… Und irgendwann sage ich es ihm. Ich heule nicht, wie befürchtet. Dafür heule ich jetzt beim Schreiben… Ich sage ihm, dass ich befürchtet habe, zu heulen, und er streckt eine Hand nach mir aus, aber ich bewege mich unwillkürlich und er zieht seine Hand schnell wieder zurück und es kommt nicht zu einer Berührung. Wir reden eine Weile und ich sage ihm, dass ich mich freuen würde, wenn wir uns trotzdem gelegentlich an der Kapelle treffen würden. Aber bitte nicht aus Mitleid. Er schaut mich überrascht an mit einem Blick, der sagt, natürlich sehen wir uns weiterhin hier oben. Er stellt ein paar gezielte Fragen und ich bekomme das Gefühl, dass er ziemlich gut Bescheid weiß. Dann stellt sich das ein, was wir seit Wochen praktizieren. Wir reden über alles Mögliche, lachen und laufen schließlich zusammen runter. Zu Hause angekommen, schicke ich ihm eine Nachricht, dass ich mich soooo gefreut habe, ihn heute zu sehen. Seine Antwort: Ich auch! Grüße und viel Kraft von Odette!” Ups… Ich werde wirklich nicht schlau aus ihm. 2 Schritte vor und einer zurück. Habe ich Halluzinationen? Offenkundig liegen mein Bauchgefühl und ich völlig falsch! Ist jetzt auch nicht mein vordringlichstes Problem…
03.08.2022 1. Termin Brustzentrum
Heike begleitet mich zu meinem Termin bei Prof. Nett Ich hole sie zu Hause ab und sie fährt mit meinem Auto nach Köln, weil ich zu konfus bin, um zu fahren. Im Wartezimmer schlägt meine Pulsuhr Alarm. Über 130 Schläge pro Minute… Heike packt ihre Bachblüten Notfalltropfen aus und verabreicht mir ein paar Tropfen. Um mich abzulenken redet und redet sie… Irgendwann schaue ich sie an und sage „Kannst Du bitte weniger reden. Ich weiß, Du willst mich ablenken, aber das halte ich gerade nicht aus.“ Sie schaut mich an und sagt „Oh, ich wollte nur..“ „Ich weiß“, sage ich , „Ich weiß“… „Tut mir leid…“ sagt sie. Dann werde ich aufgerufen und wir nehmen am Tisch gegenüber von Prof. Nett Platz. Er ist wahnsinnig sympathisch und hat eine professionelle und gleichzeitig menschliche Ausstrahlung. Er schaut sich zunächst die Unterlagen an, die ich mitgebracht habe. Ich spreche ihn auf den verdächtigen Lymphknoten an. Er schaut sich die mitgebrachten Bilder an und sagt „Dieser Lymphknoten regt mich nicht wirklich auf. Da stimme ich Ihrer Gynäkologin zu. Ich schaue mir das aber gleich an.“ Dann muss ich in die Kabine, um mich auszuziehen. Daran werde ich mich in den nächsten Monaten gewöhnen und es wird so natürlich werden, wie das Zähneputzen. „Bitte ziehen Sie sich aus, Frau Schwiemann.“ Und Frau Schwiemann zieht sich aus. Ich nehme auf der Liege Platz und er tastet zuerst meine Brust ab und lokalisiert das Gebilde, das harmlos ist und unter dem der Tumor liegt. Dann schaut er sich den Tumor und das umliegende Gewebe im Ultraschall an. Er findet auch den Lymphknoten und wiederholt noch einmal, dass er ihm nicht verdächtig vorkommt. Dennoch will er ihn biopsieren. Sicher ist sicher. Er fragt, ob ich einverstanden bin. Natürlich bin ich das. Nach der Biopsie setzt er noch einen Clip an den Lymphknoten, damit dieser bei der OP identifiziert und entfernt werden kann. Die Prozedur dauert keine 10 Minuten und regt nun mich meinerseits überhaupt nicht auf. Es hat nicht wehgetan und Prof. Nett hat mit solch ruhiger Versiertheit gearbeitet, dass ich völlig entspannt bin. Wieder am Tisch vereinbaren wir einen nächsten Termin. Es steht die Frage im Raum, ob ich zunächst hormonell „anbehandelt“ werde und dann die OP in 3 Wochen erfolgt oder ob neo-adjuvant behandelt wird, das bedeutet, zuerst Chemotherapie, dann OP und dann Bestrahlung. Das wird die Tumorkonferenz entscheiden.
Antonio und ich treffen uns weiterhin an der Kapelle. Nichts hat sich durch meine Brustkrebsdiagnose geändert. Nein, das stimmt nicht ganz. Wir werden immer vertrauter miteinander. Eines Abends frage ich ihn, ob er eigentlich auch diese Verbindung zwischen uns spürt oder ob nur ich das so wahrnehme. „Wir haben doch eine Verbindung zueinander, oder?“ frage ich. Er dreht den Kopf zu mir herüber und sagt „Eine?“ dann schaut er wieder geradeaus und sagt leise, wie zu sich selbst „Ich weiß nicht, was das ist.“ Mir liegt auf der Zunge zu sagen „Ich kann Dir sagen, was das ist.“, aber wenn er selbst keine Ahnung hat, dann will ich mich auch nicht so exponieren. Ich habe genug Probleme aktuell. Ich möchte nicht, dass zwischen uns etwas Seltsames entsteht. Also sage ich nur „Ich auch nicht, aber es fühlt sich schön an.“ Und damit ist der Moment vorbei. Wir laufen gemeinsam hinunter und verabschieden uns wie immer. Einige Tage später, wir sitzen auf „unserer Bank“, wie immer, und reden und reden und lachen. Dynamisch, lebhaft, witzig und spannend… Da sagt er „Wir können ja wirklich über alles reden.“ „Ja“, sage ich nur. Inzwischen habe ich ohnehin kapituliert. Mein Herz sagt “Antonio”. Laut und deutlich. Ich mache mir hier nichts mehr vor. Ich habe seit einiger Zeit dieses Bild im Kopf. Wir sitzen auf der Bank und ich lege meinen Kopf auf seine Schulter und er lehnt daraufhin seinen Kopf an meinen Kopf. Mehr nicht. Ich finde diese Vorstellung aberwitzig, weil ich weiß, dass das nie eintreten wird. Ich bin verheiratet. Antonio ist liiert. Und überhaupt: Ich bilde mir das doch ohnehin nur ein. Alles reines Wunschdenken.
10.08.2022 2. Termin Brustzentrum,
Mittags schreibt Antonio mir, dass er mir für 16:20 Uhr die Daumen drückt. Dann habe ich den Termin bei Prof. Nett. Ich erfahre, ob der Lymphknoten tatsächlich metastasiert ist oder nicht. Diese Information erhalte ich direkt am Anfang. Der Lymphknoten ist unauffällig. Heike und ich atmen unisono auf und durch. Die Tumorkonferenz hat bereits über meinen Befund gesprochen. Der Befund lässt Zweifel an der Plausibilität aufkommen. Einerseits zeigt der Tumor eine fast einhundertprozentige Hormonabhängigkeit und andererseits ist der KI-Wert mit 76% sehr hoch, wohingegen der Agressivitätsindikator bei „nur“ G2 liegt. Prof. Nett will den Tumor noch einmal biopsieren und diesen Zweifeln nachgehen. Diese Biopsie tut weh, als er die Biopsienadeln abschießt. „Autsch“ sage ich „das hat wehgetan“. „Das habe ich gemerkt“, antwortet er. Wir vereinbaren einen nächsten Termin. Dann endlich wird feststehen, wie meine Behandlung aussieht. Ich schreibe Antonio eine Nachricht, dass das Daumendrücken geholfen hat. Er antwortet „Yes!!!“ Und in einer zweiten Nachricht „Bin sehr froh für Dich“. Abends treffen wir uns an der Kapelle. Ich stehe gerade hinter der Wellenbank als Antonio über die Treppe oben ankommt. Er sagt etwas wie „gute Nachricht heute“ und ich sage „Du darfst mich ruhig mal umarmen.“ Ich gehe auf ihn zu und wir umarmen uns. Er verhält sich wie immer etwas seltsam und wirkt ungelenk. Das macht nichts. Ich bin mir meiner Gefühle für uns beide sicher. Auch wenn alles dagegenspricht und auch wenn er so widersprüchliche Informationen sendet. Ich habe keine Ahnung, woher ich diese Gewissheit nehme, dass es da eine tiefe Verbindung zwischen uns gibt, aber genau das fühle ich. Auch wenn ich immer wieder zurückgeworfen werde von Dingen, die er sagt. Mein Bauch sagt mir das eine, mein Kopf das andere. Versteh einer diesen Mann und mein Bauchgefühl. Und: Ich habe wahrlich andere Probleme als dieses Mysterium von einem Mann zu verstehen.
17.08.2022 Planungstreffen Ausstellungorga
Ich treffe mich heute mit Birgit von SI Cochem und Steffi von der Galerie, um mit der Ausstellungorganisation zu beginnen. Wir besprechen, wer was macht, wenn ich komplett ausfallen sollte. Ich informiere Antonio und teile ihm die Kontaktdaten beider Frauen mit. Er muss ja wissen, mit wem er zu tun haben wird, falls der Fall der Fälle eintreten sollte…
18.08.2022 3. Termin Brustzentrum
Das Ergebnis der zweiten Tumorbiopsie ist da. Der KI-Wert liegt leicht unter dem Ursprungswert. Dafür ist der Tumor von G2 auf G3 hochgestuft worden. „Das ist auf jeden Fall plausibler“, sagt Prof. Nett. Damit ist klar, dass ich eine Chemotherapie bekommen werde. Ich könnte auch an einer Studie teilnehmen, in der es um ein neues Medikament geht. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich innerhalb der Studie und die Kontrollgruppe „Chemo“ käme. Prof. Nett sagt, er könne verstehen, wenn ich mich gleich für die Chemotherapie entscheide. Ich könne mir das noch überlegen, solle aber nach dem Wochenende Bescheid geben, wofür ich mich entschieden habe. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich mich am besten für die direkte Chemotherapie ohne Studienumweg entscheide, aber ich nehme mir die Zeit, um das genauer zu überlegen. Ich werde mich tatsächlich für diesen Weg entscheiden.
20.08.2022 Rosinante tritt in mein Leben
Ich habe Probleme mit meinem linken Fuß und das Laufen zur Kapelle ist inzwischen zur Qual geworden. Aber nicht hochzugehen ist keine Option. Das Laufen tut mir gut und ich will Antonio sehen. Ich habe schon alles Mögliche ausprobiert. Verschiedene Schuhe, Einlagen, unterschiedliche Lauftechniken, Osteopathie, Kinesio Taping… Nichts hat bisher geholfen. Da ich mich weiterhin bewegen will, beschließe ich, mir ein E-Bike zu kaufen. Gesagt getan. Heute tritt also Rosinante in mein Leben. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Mit ihr kann ich um Steffeln herumradeln und auch zur Kapelle hochfahren, mit Paula im Schlepptau. Beim Hinunterlaufen mit Antonio schiebe ich das E-Bike. Nachdem wir uns verabschiedet haben sitze ich stets auf und fahre nach Hause. Welch wunderbare Entscheidung! Das habe ich gut gemacht!
Der ganze Sommermonat August ist angefüllt mit vielen, vielen Begegnungen, den Terminen im Brustzentrum und den Vorbereitungen für die Akuttherapie und den Treffen mit Antonio an der Kapelle. Ich treffe in dieser Zeit wahnsinnig viele großartige Menschen und besuche jede Menge toller Veranstaltungen. Ich nutze die Zeit vor der Therapie, solange ich noch unversehrt bin und noch nicht gezeichnet von der Behandlung, die kurativ angelegt ist, mich also gesund machen soll.
Die Sonntage haben sich als meine „Tiefpunkttage“ etabliert. Seit dem ersten Sonntag, nachdem ich meine Diagnose erhalten habe, ist jeder Sonntag bisher ein dunkler Tag gewesen und wird es auch in den Folgemonaten bleiben. Dann nämlich überkommen mich dunkle Gedanken. Gedanken an Tod und Sterben, an Rezidive und an all die schrecklichen Dinge, von denen ich gehört oder gelesen habe oder von denen mir wohlmeinende Menschen (immer wieder) berichten und die völlig ungebeten an solchen Sonntagen meine Gedanken bevölkern. Aber wenn ich dann am tiefsten Punkt angekommen bin an solchen Tagen, geschieht etwas Erstaunliches. Meine innere Stimme meldet sich und sagt laut und deutlich „Stopp! Du bist stark! Du schaffst das! Halt aus! Das wird schon!“ Während ich dies schreibe weine ich. Weil ich dankbar bin für diese innere Stimme. Für diese Kraft, die sich einfach aus mir selbst heraus entfaltet. Ich empfinde sie als Geschenk und nicht als Verdienst. Ich habe großes Glück, sie zu haben. Es gibt gute UND schlechte Tage. Und das ist völlig in Ordnung.
Donnerstag, 25.08.2022, Staging-Untersuchungen
Nachdem ich im Brustzentrum Bescheid gegeben habe, dass ich nicht an der Studie teilnehmen werde, geht es endlich los. Heute muss ich zum Staging. Ich bekomme ein CT des gesamten Körpers, einen Ultraschall des Herzens und eine Knochenszintigraphie. Es wird untersucht, ob ich Metastasen im Körper habe. Ich bin im Ausnahmezustand und höre auf dem Weg nach Köln in Dauerschleife Andare und Giorni Dispari von Einaudi. Ich frage mich, was die Untersuchungen bringen werden… Wird man mir sagen, dass mein gesamter Körper voller Metastasen ist und man nichts mehr für mich tun kann? Habe ich Metastasen im Kopf? Meine absolute Horrorvorstellung, nachdem ich gesehen habe, wie meine Freundin Christiane an einem Hirntumor gestorben ist. Oder bin ich frei von Metastasen? Diese Fragen rasen in Dauerschleife durch meine Gedanken. Ich bin wie erstarrt. Im Krankenhaus angekommen, muss ich zunächst ins Brustzentrum, wo ich meinen Laufzettel bekomme. Ich bewege mich wie in Trance. Zuerst geht es in die Radiologie, wo ich das Kontrastmittel erhalte, das sich zunächst 2 Stunden lang in meinem Körper verteilen muss. Bis dahin erhalte ich das CT und den Herzultraschall. Das CT kommt zuerst. In der Radiologie habe ich einen Venenzugang gelegt bekommen. Für das CT wird ebenfalls ein Kontrastmittel benötigt, das irgendwann während der Untersuchung automatisch eingespritzt wird. „Es kann sein, dass Sie dann einen seltsamen Geschmack wahrnehmen und ein Wärmegefühl im Bauch.“, sagt mir die Radiologieschwester. Es geht los. Der Radiologe spricht während der Untersuchung über einen Lautsprecher mit mir und kündigt die einzelnen Schritte an. Dann kommt das Kontrastmittel und ich bekomme das Gefühl zu verbrennen. Ich atme kontrolliert, um meinen in die Höhe schießenden Herzschlag einzufangen. Nach einer Weile ist die Untersuchung vorbei und ich kann mich wieder anziehen und weiter zur Ultraschalluntersuchung laufen, die unspektakulär verläuft und ohne Befund ist. Nun muss ich warten, bis ich zur Knochenszintigrafie gehen kann. Zum Krankenhaus gehört ein Park. Ich setze mich auf eine Bank und höre Musik, wieder Andare und Giorni Dispari. Wieder in Dauerschleife . Ich sehe Krankenhauspersonal vorbeilaufen, das im Park Mittagspause macht. Schwesternschülerinnen, die lachend gemeinsam durch den Park schlendern. Es ist sommerlich warm, Vögel zwitschern und alles sieht völlig normal und alltäglich aus. Nur steht mein Leben gerade Kopf und ich werde bald erfahren, ob der Tumor in meiner Brust alleine ist, oder ob er sich bereits in meinem Körper ausgebreitet hat. Dieses Gefühl und die Gedanken hierzu sind kaum zu Papier zu bringen. Es ist der blanke Horror, der mich fest umfangen hält. Ich habe Angst.
Schließlich ist es Zeit, zur Radiologie aufzubrechen. Dort angekommen muss ich mich ausziehen und auf einer Liege unterhalb einer Maschine Platz nehmen, die in den nächsten 50 Minuten über meinen gesamten Körper fahren wird und Aufnahmen von all meinen Knochen machen wird. Ich bin so schrecklich müde. Ich lege mich einfach hin und lasse alles mit mir geschehen. Dass im letzten Schritt ein anderes Gerät ganz dicht über meinem Gesicht verharrt bekomme ich kaum mit. Ich bin nahezu eingeschlafen. Die Anspannung fordert ihren Tribut. Als auch diese Untersuchung vorbei ist, fahre ich wie schlafwandelnd nach Hause. Morgen soll ich einen Anruf mit den Ergebnissen erhalten.
26.08.2022 Freitag
Ich habe kaum geschlafen und kann an nichts anderes denken, als an den bevorstehenden Anruf. Ich sitze auf meiner blauen Ottomane und höre Musik. Diese Warterei ist eine Qual. Schließlich setze ich mich ins Auto und fahre ins 60 km entfernte Wittlich, um dort Einkäufe zu erledigen. Reine Beschäftigungstherapie. Als um 11 Uhr noch immer kein Anruf eingegangen ist, rufe ich selbst im Brustzentrum an. Besetzt. Ich stelle mich bei einer Fast-Food-Kette auf den Parkplatz und sitze einfach im Auto, höre Musik und drücke die Wahlwiederholung, bis ich endlich Frau Maurer vom Sekretariat in der Leitung habe. Ich erkläre mein Anliegen und sie fragt: „Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie einen Anruf bekommen?“ Ich erkläre es und denke panisch, dass ich möglicherweise das gesamte Wochenende auf die Ergebnisse warten muss. Dann sagt sie: „Moment, Frau Schwiemann, ich hole mir gerade mal Ihre Akte.“ Ich höre Papier rascheln, mein Puls rast und ich kann nur eines denken ‚Bitte, bitte bitte, keine Metastasen!‘ Als Frau Maurer wieder am Apparat ist, liest sie mir die Befunde vor. Keine Metastasen! Ich möchte weinen vor Freude und sage ihr, dass sie gar nicht weiß, wie glücklich sie mich gerade gemacht hat. „Doch“, antwortet sie, „das weiß ich!“.