Wie alles begann. Oder der Countdown zur Begegnung mit dem großen K.
#kannstedirnichtausdenken
Erkenntnis: Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Haare auch nicht.
Der Dichter Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen schrieb 1669 in seinem “abenteuerlichen Simplicissimus Teutsch” folgende Zeilen “Gut Ding will Weile haben und vortreffliche Sachen werden ohne große Mühe und Arbeit nicht erworben“. Quelle Wikipedia
28.2.2022 Rosenmontag
Es ist Rosenmontag und ich habe frei. Ich liege auf meiner Ottomane mit Blick in den Eifelhimmel und lese Posts bei Facebook, als ich einen Eintrag von Tetiana Maccabelli aus der Ukraine entdecke. Sie berichtet über die vielen Geflüchteten, die in Uschgorod ankommen, hauptsächlich Frauen und Kinder. Man benötigt dringend Lebensmittel, Kissen, Decken, Isomatten, Hygieneartikel und Lebensmittel. Ich rufe sie spontan an und sage ihr Hilfe zu. Sogleich hänge ich mich ans Telefon und fange an zu organisieren. Telefonat mit unserer Landrätin, mit ‚Freunde helfen Konvoi‘, dem befreundeten SI-Club Cochem/ Mosel und und und… Was daraus entstehen wird, ist mir jetzt noch nicht klar. Es wird mein Leben verändern und mutmaßlich auch retten…
02.04.2022
Inzwischen haben wir 2 Hilfstransporte an die Ukrainische Grenze organisiert. Leider lässt die Spendenbereitschaft deutlich nach und ich überlege, wie ich Gelder einsammeln kann, um weiter zu helfen. Das Leid der Menschen berührt mich und ich will weiterhin helfen. Da kommt mir die Idee mit den Benefizveranstaltungen. Wen kenne ich, der bei einer solchen Veranstaltung mitwirken könnte? Mir fallen spontan zwei Menschen ein. Zum einen einen Krimiautor, den ich seit 20 Jahren kenne und meinen Kunden Antonio de Castillo, ein in seinem Heimatland wohl sehr bekannter Künstler, den ich persönlich noch nicht kennengelernt habe. Als er mit unserer Hilfe ein Haus gekauft hat, sind wir uns nicht begegnet. Ich kontaktiere alle beide. Mit dem Autor telefoniere ich einige Male. Er hat Bedenken, dass Krimi und Krieg nicht gut zusammenpassen. Antonio de Castillo antwortet am nächsten Tag und sagt sofort zu. Wir verabreden uns für Freitag, den 8. April bei ihm in seinem Haus. Was sich hieraus entwickeln wird, ahne ich zu diesem Zeitpunkt nicht.
08.04.2022, 17 Uhr
Ich habe den Termin mit Antonio de Castillo ans Tagesende geplant, dann kann ich danach gleich nach Hause. Ich klingle und die Tür wird geöffnet. Wir setzen uns in die Küche an den Tisch. Er guckt mich an und sagt „Endlich!“. Ich fasele irgendetwas von „Du hattest ja immer mit einem meiner Mitarbeiter zu tun als Du das Haus hier gekauft hast…“ Ich erzähle ein bisschen von meiner Ukraine-Initiative und nach 5 Minuten haben wir bereits alles bezüglich der Ausstellung besprochen, was zu diesem frühen Zeitpunkt wichtig ist. Was braucht er? Einen Ausstellungsraum. Was sonst? Eigentlich nichts! Dann fangen wir an zu plaudern. Über die Eifel. Über ihn, über mich. Wann bin ich in die Eifel gekommen und warum? Was hat ihn hierher gezogen? Er fragt mich jede Menge Dinge. Ich erzähle und erzähle… Als ich ca. 2 Stunden später zu meinem Auto gehe, schüttele ich verwirrt den Kopf. Was war das jetzt? Habe ich jetzt gerade wirklich so viel aus meinem Leben erzählt? Einem Menschen, den ich gerade erst kennengelernt habe? Auch noch einem Kunden… Bei diesem Gedanken ist mir etwas schwindelig.
19.04.2022
Ich habe eine Location für das Ausstellung gefunden und frage, ob wir uns noch einmal treffen können, um konkreter zu planen. Wir verabreden den 19.4. und ich vergesse es völlig… Als Antonio sich am 18.4. meldet und fragt, wann wir uns treffen, war mir das völlig entfallen… Michael und ich sind noch mit dem Cabriolet unterwegs und wir verabreden, dass Antonio um 19:30 zu uns kommt. Antonio kommt mit dem Fahrrad. Als er oben im Wohnzimmer ankommt, macht er etwas Sonderbares. Er geht am Tisch mit den Stühlen vorbei, stellt sich hin, guckt aus den bodentiefen Fenstern und bleibt dann ganz kurz einfach stehen. Dann dreht er sich um und setzt sich auf einen der Stühle am Tisch. Wir sind zu dritt. Die Besprechung der Ausstellungdetails nimmt nicht viel Zeit in Anspruch. Tatsächlich reden eigentlich nur Antonio und ich miteinander. Er erzählt von einem Buch, das er gelesen hat über die Baltische Seele, einen estnischen Maler und die Frage, ob Kunst ein Land verändern kann. Ich sage, dass ich das absolut für möglich halte, da wir die Kunst nicht deswegen brauchen, weil sie so unterhaltsam ist, sondern weil sie uns auf bestimmte Weise fühlen lässt. Irgendwann geht er. Ich begleite ihn hinunter zu seinem Fahrrad, das vor dem Haus steht. Wir bleiben kurz stehen und ich frage ihn, ob das Rad Elekrounterstützung hat. „Ein bisschen“, sagt er. Etwas sehr Winziges in meinem Bauch flattert. Wir verabschieden uns und er steigt auf das Rad und fährt los. Ich möchte meine Hand nach ihm ausstrecken und ihm hinterherrufen „Bleib!“, aber natürlich tue ich nichts dergleichen. Ich ignoriere diese äußerst seltsame Anwandlung und gehe zurück ins Haus. „Was für ein netter Mensch, teile ich den Stufen innerhalb unseres Hauses mit, einfach um etwas von diesem sonderbaren Gefühl nach außen zu bringen. Fast ein Jahr später erzählt Antonio mir, dass er das in diesem Moment auch gespürt hat.
Ich organisiere alles Mögliche rund um die Ausstellung. Mit Antonio tausche ich mich über WhatsApp aus. Die Ausstellung soll im Mai stattfinden. Die Zeit für die Vorbereitungen und das Marketing ist knapp. Ich kenne mich mit der Materie nicht aus und übertrage meine eigene Begeisterung zu optimistisch auf unser künftiges Publikum. Und zeitglich fallen viele Coronamaßnahmen weg und wirklich jeder Verein holt nun seine Veranstaltungen nach. Die Anmeldefrist läuft an und tatsächlich meldet sich nur ein einziger Mensch bezüglich einer Anmeldung und das ist auch mein langjährigster Freund Stefan aus Frankfurt. Das lässt sich überhaupt nicht gut an. Im Büro habe ich einen Termin mit einer Redakteurin von ‚Kunst in der Eifel‘. Ich bestelle eine Palette dieser Ausgabe für unsere Präsentkörbe, da kommt mir die Idee, ob sie nicht Antonio vorstellen können in dieser Ausgabe. Ich frage ihn, er sagt zu und gebe seine Kontaktdaten weiter. Mein Kontakt mit dem Veranstalter führt zu einer Menge Fragen, die ich mit Antonio klären muss. Ich frage ihn, ob wir das lieber per WhatsApp machen oder uns noch einmal treffen sollen. Er geht auf meine Frage gar nicht sein, sondern schreibt mir, dass er vom 3. bis 5. Mai in der Eifel sein wird. Wir verabreden uns für den 3.5. um 15 Uhr. Irgendwie erfahre ich, dass er kurz vorher Geburtstag hat. Ich packe das Buch mit den Luftaufnahmen der Eifel von Sven Nieder ein und das Buch über Lieblingsorte der Eifel von Angelika Koch und nehme sie ihm als Geburtstagsgeschenk mit als ich am 3.5. losfahre. Es ist schrecklich heiß. Die Haustür steht auf als ich dort ankomme. Ich klingle und Antonio bittet mich hinein und fragt mich stotternd, ob ich einen Kaffee möchte. Er ist irgendwie aufgeregt und fahrig und ich verstehe nicht warum. „Ich nehme gerne einen Kaffee“, sage ich, „mit Milch“. „Oh“, sagt er und rennt die Treppe hinauf, um die Milch zu holen. Wir setzen uns nach draußen und besprechen meine zahlreichen Punkte. Er sieht schrecklich mitgenommen und müde aus. Dann sagt er, dass seine Frau heute herkommt. „Ah, wie schön“ sage ich. Etwas Intelligenteres fällt mir nicht ein. Ich habe nun das Gefühl, mich beeilen zu müssen. Als mein Kaffee ausgetrunken ist und wir alle Punkte besprochen haben, sage ich als ich auf die Uhr sehe, „Ich halte dich auf“ und stehe gleichzeitig mit diesen Worten auf. Er springt von seinem Stuhl auf und sagt „Nein, ich halte Dich auf!“… Wir verabschieden uns. Mein Bauch flattert nicht nur, er ist in Aufruhr. Ich will das nicht. Was soll das? Der Mann ist verheiratet. Ich bin verheiratet. Seine Frau ist im Landeanflug. An diesem Abend schickt seine Frau mir eine Freundschaftsanfrage bei Facebook. „Schweigt still, Bauch und Herz!“, raune ich besagten Eingeweiden zu und fahre nach Hause. Wir haben alles besprochen. Seine Frau kommt heute. „Das geht Dich überhaupt nichts an!“ teile ich meinem Herzen mit. Es lässt sich davon jedoch in keiner Weise beirren. Und in meinem Bauch flattert es, als sei eine ganze Horde Fledermäuse in Bewegung geraten. Ich beschließe, das Gefühl einfach zu ignorieren. Es ist ja ohnehin einseitig. Mein Herz flüstert „Ja, aber… da ist etwas zwischen uns. Etwas Vertrautes. Etwas… Dieses schwer fassbare „Etwas“. „Da ist nichts“, teile ich meinem Herzen mit. „Und jetzt sei still!“
Michael und ich fahren an die Ostsee. Inzwischen ist klar, dass die Anmeldungen für die Ausstellung nicht läuft. Während wir in Eckernförde sind, stecke ich mich mit Corona an und könnte auch gar nicht zur Ausstellung kommen. Wir haben bisher nur 8 Anmeldungen und müssen die Ausstellung absagen. Und das obwohl ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt habe, um das Event zu promoten. Ich schreibe Antonio das und wir verabreden, dass wir einen neuen Termin mit dem Veranstalter vereinbaren müssen.
19.05.2022
Heute bin ich mit Antonio verabredet, um den Nachholtermin festzulegen. Er kommt zu mir. Er bringt mir einige Zeitungsausschnitte mit. Obenauf liegt einer von ihm und seiner Frau, mit Foto der beiden. „Oh je“, denke ich. Das ist ein Wink mit dem Zaunpfahl. Nein, kein Zaunpfahl. Es ist ein ganzer Wald. Er sagt, jemand habe ihn gefragt, ob ich überhaupt etwas arbeite, ich scheine ja nur bei Facebook zu sein. Ich antworte, dass ich die Ausstellung promoten wollte und wir nur 8 Anmeldungen haben…und dass ich einfach alles dafür tun wollte, die Ausstellung zu bewerben. Dennoch nehme ich mir vor, mein Engagement zurückzufahren. Ich nehme die Presseartikel in Empfang und bedanke mich. Wir telefonieren gemeinsam mit dem Veranstalter und legen schließlich einen Termin im Oktober als Nachholtermin fest, nicht ahnend, was sich bis dahin alles ereignet haben wird und wie sehr mein Leben sich zu diesem Zeitpunkt verändert haben wird.
Ich gebe Antonio das Buch über die Baltische Seele zurück, das er mir geliehen hat. Er steht auf, um zu gehen und wir plaudern noch kurz über den estnischen Künstler, um den es ihm in diesem Buch ging. Ich hatte mir während des Lesens auch die entsprechenden Werke angesehen. Ich frage ihn, ob er wissen möchte, was ich vor meinem inneren Auge sehe, wenn ich an die Arbeiten denke. „Ja!“, sagt er . „Ich sehe Bäume und Landschaft vorbeiziehen. Gänsehaut, sage ich und bemerke, dass ich gerade Gänsehaut bekomme streiche mir über den linken Arm. Antonio sieht mich an und wiederholt die Geste bei sich. „Ja, Gänsehaut.“, sagt er. Ich begleite ihn nach unten. Dann ist er durch die Tür und weg. Als er weg ist, bricht ein riesiges Gewitter über das Dorf herein. Paula läuft unruhig hin und her. Ich setze mich schließlich zu ihr auf den Boden und wir warten gemeinsam, bis das Blitzen und Donnern aufhört. Währenddessen fasse ich einen Entschluss. Ich schreibe Antonio, dass mein Engagement einzig und allein dem Marketing für die Ausstellung geschuldet ist. Ich habe das Gefühl, das machen zu müssen. Ich möchte nicht wie eine schwärmende Teenagerin dastehen und schon mal gar nicht möchte ich, dass irgendjemand etwas von meinen Gefühlen für Antonio erahnt. Ich muss mein törichtes Herz endlich zum Schweigen bringen, nur wie?
Tage später bin ich unterwegs zu einem Kundentermin als ich im Radio einen Song höre. Ich werde aufmerksam, als der Refrain wiederholt wird.
Rihanna / Stay
Not really sure how to feel about it
Something in the way you move
Makes me feel like I can’t live without you
It takes me all the way
I want you to stay
Als der Refrain noch einmal kommt, singe ich mit, allerdings etwas abgewandelt
Not really sure how to feel about it
Something in the way you move speak
Makes me feel like I can’t live without you
It takes me all the way
I want you to stay
Mir ist plötzlich klar, was in mir vorgeht. Mein Herz sagt “Antonio”. Ich flüstere mir selbst zu, dass das doch einfach nicht wahr sein kann. „Du spinnst“, teile ich mir selbst mit. Mein Herz lächelt mir zu und ich sage nur zu meinem Lenkrad „Oh Gott, bitte lass‘ dieses Gefühl wieder weggehen“.
Bis Oktober ist es noch lange hin.
Ich bedaure, dass nun nichts mehr zu besprechen ist. Ein bisschen. Ein bisschen mehr. Nach dem Termin mit der Redakteurin meldet Antonio sich noch einmal und gibt mir ein Feedback. Es war ein guter Termin. So, das war es jetzt aber… Das Flattern in meinem Bauch hat inzwischen unübersehbare Ausmaße eingenommen. Wie kann ich eine deutliche und tiefe Verbindung zwischen uns spüren, wenn da doch gar nichts ist und er mir mit den Presseartikeln quasi durch die Blume noch einmal signalisiert hat, dass da nichts ist? Ich bin ratlos.
02.06.2022
Ich versuche, nicht an Antonio zu denken. Ich versuche, das was ich fühle zu vergessen. Diese Verbindung. „Das bildest Du Dir ein“, sage ich mir. Er ist einfach nur nett. Ich überzeuge mich selbst davon, dass alles eine Ausgeburt meiner Phantasie ist. Alles Quatsch. Er ist einfach ein netter Maler, der freundlicherweise ein Benefiz-Ausstellung zugunsten meiner Ukraine-Initiative mitveranstaltet. Fertig! Ich mache meine Arbeit, treffe viele Leute, habe Spaß und bin wahnsinnig beschäftigt, Arbeit und Ukraine-Hilfe unter einen Hut zu bekommen. Es macht viel Freude zu sehen, wie alles Hand in Hand läuft und wie viele Menschen zusammenarbeiten, um zu helfen. Ich bin glücklich. Ich habe Abstand zu meinen Gefühlen zu Antonio und bin unglaublich erleichtert. Das wurde auch Zeit! Ich fahre gerade aus dem Ort Schutz heraus, da kündigt mein Handy eine WhatsApp-Nachricht an. Da gerade so viel los ist bezüglich Transportplanung, nehme ich das Handy noch während der Fahrt in die Hand, um zu schauen ob es wichtig ist, oder Zeit hat. Es ist eine Nachricht von Antonio. Nur dieses Buchcover mit dem Text “Nicht da wo man seinen Wohnsitz hat ist man daheim, sondern da wo man verstanden wird.”
Ich antworte nur kurz mit „Genau“ und einem Herzen“ und frage, ob er hier in der Eifel ist. Ja, schreibt er. Daraus entwickelt sich eine ellenlange über Stunden dauernde Kommunikation bis in den späten Abend hinein. Irgendwann schreibt er, dass seine Frau und seine Söhne morgen zu Besuch kommen. Und dass er in den nächsten Wochen viel Besuch haben wird. Und dass ich nicht alles weiß. „Noch nicht“ antworte ich scherzhaft. „“Wir brauchen mehr Zeit. Wir nehmen mehr Zeit“, schreibt er.
Ich reibe mir verdutzt die Augen. Was meint er damit? Irgendwann schreibe ich, dass ich schlafen muss und überlasse ihn seiner Essensplanung für den Familienbesuch. Ich liege auf meiner Ottomane und meine Gefühle sind im Aufruhr. Die hart erarbeitete Contenance ist dahin. Was war das heute? Was war das gerade? Gerade als ich mich davon überzeugt hatte, dass ich mir alles nur eingebildet habe, kommt er mit so etwas um die Ecke. Was soll ich sagen? Ich bin ratlos. Und muss mir eingestehen, dass meine Gefühle für Antonio klar wie die helle Sonne vor mir stehen und ich mir wirklich nichts vormachen kann. Das, was ich empfinde, ist stark, sehr stark. Und es lässt sich nicht mehr leugnen. Mist! Das ist eine Situation, die ich so keineswegs erwartet habe. Dass dies bald mein kleinstes Problem sein wird, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
17.06.2022
Ich bin oben an der Kapelle und sitze am Wanderertisch, als Antonio mir ein Video einer Ausstellungseröffnung schickt. Ich schreibe ihm, dass ich es mir später ansehe, da ich gerade an der Kapelle bin. Dann schreibt er, dass er auch noch zur Kapelle kommen will. „Dann sehen wir uns?“, frage ich. „Ja!“, antwortet er.
Ich warte auf ihn. Wir gehen zur Wellenbank hinüber und setzen uns nebeneinander. Und das ist der Auftakt zu drei Monaten regelmäßiger Treffen oben an der Kapelle. Meist ohne uns zu verabreden. Ich werde nahezu jeden Abend mit Paula zur Kapelle hochlaufen. Einfach weil es ein wunderschöner Sommer ist, weil es mir guttut und weil ich Antonio sehen will. Und ich gehe auch hinauf, wenn ich weiß, dass Antonio nicht hier ist, weil das dort oben mein Lieblingsort ist. Dann sitze ich alleine auf der Wellenbank, genieße die Aussicht, höre den Vögeln beim Zwitschern zu und lasse diese besondere Atmosphäre auf mich wirken. Es ist immer schön dort oben. Und auch wenn sich nichts wirklich ändert, so ist es doch immer anders und wird niemals langweilig.
Unsere Begegnungen sind immer „zufällig“. Er weiß, wann ich dort oben bin und ich weiß, wann er üblicherweise dort ist. Wenn er nicht in der Eifel ist, kommt er natürlich nicht. Oft erzählt er, was bei ihm an Ausstellungen ansteht, aber meist weiß ich nicht, ob ich ihn sehe, wenn ich hochlaufe. Es ist also meist eine Überraschung. Ich laufe für mich und Paula muss laut unserer Tierärztin dünner werden… Tatsächlich habe ich unbeabsichtigt durch die Lauferei 5 kg abgenommen, der Hund jedoch kein Gramm. Wenn wir uns sehen ist es immer schön. Wir reden über alles und nichts, lachen sehr, sehr viel und sind auf eine seltsame Weise vertraut miteinander. Wenn die Zeit um ist (er will immer um 23 Uhr unten bei seinem Auto sein, irgendwann erkenne ich, warum da so ist) sagt er „Ich gehe runter!“ und ich gehe mit, weil es dann schon dunkel ist und ich ein Angsthase bin und nicht alleine durch die Dunkelheit gehen will. Irgendwann fangen wir an, uns beim Abschied zu umarmen. Er umarmt mich immer mit Abstand. Das fühlt sich doof an, aber so ist es eben. Er ist schwer zu durchschauen. Wir sprechen teilweise sehr lebhaft miteinander und berühren uns dabei auch manchmal. Allerdings alles im Rahmen und ohne, dass irgendeine Tendenz erkennbar wäre. Ich rätsele oft, ob da etwas zwischen uns ist. Manchmal denke ich, es kann gar nicht anders sein. Manchmal halte ich es für komplett abwegig. Aber mein Bauch und mein Herz sagen immer, immer, dass es da eine tiefe Verbindung zwischen uns gibt. Ich weiß auch nicht, warum ich dieses klare und deutliche Gefühl habe. Es entbehrt tatsächlich jeglicher Grundlage. Und dennoch fühle ich es. Ich muss wirklich verrückt sein.
Über die letzten Wochen sind wir immer vertrauter miteinander geworden. Nichts ist passiert zwischen uns, natürlich nicht. In den letzten Tagen hat Antonio jedoch abends beim Abschied begonnen zu sagen: „Vielleicht morgen wieder?“ Und ich sage etwas wie „Gleiche Zeit.“ Tatsächlich haben wir für den folgenden Abend so etwas wie eine klitzekleine Verabredung. Ich denke nicht darüber nach, was ich hier eigentlich mache oder wohin das führen kann. Es zieht mich unaufhaltsam zu diesem mir so unendlich vertrauten und doch völlig fremden Menschen hin. Und offensichtlich geht es ihm mit mir genauso. Ich bin an der Kapelle. Er ist nicht da. Ich bleibe ein herrliches Stündchen alleine auf der Wellenbank und gehe dann langsam hinunter. Unten an der Treppe treffen wir uns. Ich sage „Ich bin schon auf dem Weg nach unten…“, sage ich. Er läuft seltsam starr und sagt, er gehe heute nur eine kleine Runde. „Morgen gegen neun Uhr?“ fragt er. „Ja“, sage ich. Wir stehen etwas seltsam voreinander. Dann reiße ich mich los und laufe mit Paula den Weg hinunter. Am nächsten Abend kommt er nicht. Dafür kommt am nächsten Tag eine Nachricht, dass er gesundheitliche Probleme hat und nach Lille gefahren ist. Kann sein, dass er operiert werden muss. Er wird über drei Wochen nicht in der Eifel sein und wenn wir uns wiedersehen, wird sich mein Leben dramatisch verändert haben. Aber das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
13.07.2022
Beim Ausziehen, bevor ich mein Nachthemd anziehe, taste ich zufällig einen Knoten bei 12 Uhr in meiner rechten Brust. Er ist recht groß und ich habe ihn bis jetzt noch nie wahrgenommen. Ich habe ca. 5 kg abgenommen durch den fast täglichen Gang zur Kapelle. Dadurch sind meine Brüste weicher geworden. Ich sage mir, das wird schon nichts sein und gehe schlafen.
15.07.2022
Ich lege spontan einen Wellnesstag ein. Falls doch etwas ist, habe ich diesen einen Tag noch für mich. Ich taste bei jedem Gang zur Toilette, ob der Knoten noch da ist. Einmal finde ich ihn nicht und überzeuge mich fast, dass ich mir das nur eingebildet habe. Da ist nichts. Beim nächsten Gang ist er wieder da!
17.07.2022 (Sonntag)
Ich liege am Nachmittag im Garten in der Sonne. Ich hatte mir vorgenommen, Josi, meine Gynäkologin, am Tag darauf in der Praxis anzurufen, halte es aber plötzlich nicht mehr aus und schicke ihr eine Whatsapp.
18.07.2022 (Montag) 15 Uhr
Josi ertastet das Ding in meiner Brust auch und macht direkt einen Ultraschall. Das Teil ist groß aber harmlos. Ich entspanne mich auf der Liege und sage zu ihr „das ist genau das, was ich hören will!“ Sie schallt noch etwas weiter und ich denke „warum hört sie nicht auf?“. Da sagt sie „Nein, Moment mal… da ist noch was..!“ Der Tumor liegt genau unter dem harmlosen Ding und sieht laut Josi verdächtig aus. Er erfüllt gleich drei Bedingungen eines bösartigen Tumors. Josi hängt sich sofort ans Telefon und organisiert mir gleich für den nächsten Morgen einen Termin für eine Mammographie. Sie sagt , sie würde mir gerne etwas anderes sagen, aber für sie ist der Tumor verdächtig.
18.07.2022 (Dienstag) Mammographie
Ich parke mein Auto in der Nähe des Krankenhauses. In mir tobt ein Sturm. Als ich aussteige kommt ein Mann vom Ordnungsamt auf mich zu und teilt mir mit, dass ich mein Auto umparken soll. Ich sehe ihn an und sage ihm, dass ich einen Tumor in der Brust habe und gerade auf dem Weg zur Mammographie bin und dass ich jetzt einfach nicht umparken kann. Ich vibriere innerlich und habe absolut keine Nerven dafür. „Bitte geben Sie mir einfach einen Strafzettel. Ich kann jetzt einfach nicht.“ Der Mann ist sehr nett und ich verstehe, dass es sein Job ist, Strafzettel auszustellen. Wenn ich zurückkommen werde, wird er mir keinen Strafzettel gegeben haben. Zu diesem Zeitpunkt ist mir das zwar völlig gleichgültig, aber ich bin diesem Menschen doch für sein Mitgefühl dankbar. Ich sitze im Warteraum der Radiologie und fühle mich abwechselnd als sei ich im falschen Film und in totalem Aufruhr. Ich kann einfach nicht daran glauben, dass dieser Tumor gutartig ist, nachdem Josi gesagt hat, dass er gleich drei Bedingungen eines bösartigen Tumors erfüllt. Schließlich werde ich aufgerufen und eine sehr einfühlsame Radiologieschwester nimmt sich meiner an. Ausziehen, an den Apparat treten, die Brüste in eine bestimmte Position bringen, Luft anhalten. Ich stehe da, meine Fäuste geballt vorlauter Anspannung und lasse alles mit mir geschehen. Sie deutet auf ein Muttermal und sagt „Da haben Sie ein Blutschwämmchen.“ Ich nicke nur. Dass sie meine Brüste in die Hand nimmt und optimal positioniert kommt mir unwirklich vor, aber sie ist dabei so sanft und vorsichtig, dass ich mich gut aufgehoben fühle. Das Gerät quetscht meine Brüste schmerzhaft zusammen, aber nur kurz, dann ist schon alles vorbei. Ich muss mich auf die Liege legen. Der Radiologe will noch einen Ultraschall machen. Ich liege und warte mit unbekleidetem Oberkörper. Daran werde ich mich in den nächsten Monaten gewöhnen. Als der Ultraschall erledigt ist, teilt mir die Radiologieschwester mit, dass man Kalk in meiner rechten Brust entdeckt hat und daher noch Detailaufnahmen gemacht werden müssen. Diese Aufnahmen sind noch schmerzhafter als die ersten Aufnahmen, aber es ist ja für einen guten Zweck. Als alles vorbei ist, fahre ich zum Dauner Kurpark, um eine Runde zu laufen und die Anspannung loszuwerden. Allerdings müsste ich dafür den Äquator umlaufen, damit meine Anspannung nachlässt. Ich parke gerade mein Auto als Josi auch schon anruft. Sie hat den Befund bereits vorliegen. Der Tumor muss biopsiert werden zur weiteren Abklärung. Zudem ist auf den Aufnahmen Mikrokalk zu sehen, mit 11 cm ziemlich groß. Dieser ist nicht bösartig. Kann es aber werden. Bei einer OP würde er mit rausoperiert werden. Der Radiologe vereinbart sofort für den nächsten Tag im KH Wittlich einen Termin zum Vorgespräch für die Biopsie.
19.07.2022 (Mittwoch)
Aufklärungsgespräch für die Biopsie (im Fachjargon auch Stanzbiospie oder kurz Stanze genannt), die direkt am Folgetag stattfindenden soll. Sie stechen unter Ultraschallkontrolle mit einer Hohlnadel in die Brust und schießen dann die Biopsienadeln in den Tumor. Schreckliche Vorstellung.
20.07.2022 (Donnerstag) 7 Uhr
Ich habe kaum geschlafen. Die Vorstellung, dass man mir gleich eine lange Nadel in die Brust sticht, ängstigt mich. Als ich mich auf die Liege lege, werde ich plötzlich ganz ruhig. Die Ärztin macht einen sehr versierten Eindruck und ist sogar empathisch. Zuerst wird der Tumor mittels Ultraschalls lokalisiert. Dann bekomme ich eine Lokalanästhesie. Schließlich kommt die Hohlnadel. Ich schaue woanders hin. Eigentlich immer, wenn sich mir Nadeln nähern… auch bei der Blutabnahme beim Hausarzt. So gucke ich auch jetzt in eine andere Richtung. Es klickt ein paarmal, dann ist schon alles vorbei. Als ich zur Ärztin sage, dass ich immer noch die Hoffnung habe, dass der Tumor gutartig ist, versteift sie sich und schaut mich nicht an…. Das habe ich verstanden. Sie denkt auch, dass der Tumor bösartig ist… Jetzt heißt es abwarten. Bis das Ergebnis da ist, können 10 Tage vergehen.
28.07.2022
Heute wird Antonio operiert. Ich fahre morgens zur Kapelle und zünde je eine Kerze für ihn und für mich an. Hoffentlich hilft es.
Um 11:42 schickt Antonio mir ein Foto von sich aus dem Krankenhaus. Die OP war erfolgreich. Ich freue mich und heule erstmal eine Runde. Er weiß nicht, was bei mir gerade los ist. Was soll ich ihm auch sagen? Sind wir Freunde? Oder ist da einfach gar nichts und ich bilde mir das alles nur ein? Außerdem ist er selbst krank.
Ich gehe ins Büro arbeiten. Gegen halb drei bin ich dann schließlich so nervös, dass ich nach Hause fahre. Mein Klavier ruft mich. So sitze ich am Klavier und spiele ‚Tomorrow‘s Song‘ von Olafúr Arnalds als Josi um genau 15:02 anruft. „Hallo Sabine! Wir hatten es uns ja schon gedacht…“, sagt sie mir, als ich das Gespräch annehme. Ich sitze an meinem Klavier und halte mir mein Handy ans Ohr. Josi spricht schon weiter. Über Hormonsensitivität, Feld-, Wald- und Wiesen-Tumor… „Komm heute Abend um 20 Uhr in die Praxis. Bring Michael mit. Das sind viele Informationen. Vier Ohren hören mehr als zwei.“ Wir beenden das Gespräch und ich stehe jetzt auf und laufe unmotiviert eine Runde durch das Wohnzimmer. Als ich mich schließlich setze, ist alles ganz still in meinem Kopf, absolut still. Ich bewege mich auch nicht, sondern atme ganz still vor mich hin. So sitze ich zunächst einige Minuten. Ich weiß nicht, wie lange. Dann rufe ich erst Heike und dann Michael kurz an, um beiden Bescheid zu geben und Michael über den Termin am Abend bei Josi zu informieren. Dann fange ich an Informationen zu sammeln. Telefoniere mit einem Brustzentrum in Mönchengladbach. Dann breche ich zu einem Kundentermin auf. Doch vorher fahre ich zur Kapelle und setze mich wie betäubt auf ‚unsere Bank’. Ich sitze einfach nur da. Beim schönsten Sommerwetter. Es ist warm. Die Vögel zwitschern. Die Fernsicht ist so wunderschön. Und mein Leben steht gerade still! Ich denke ans Sterben, Prognosen, ausfallende Haare und… Antonio. Ja, so seltsam das wirken mag. Ich denke an ihn. Mein Herz gehört ihm so ganz und gar. Und jetzt habe ich das Gefühl, ist es vorbei mit unserer Freundschaft. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir das fortsetzen, was wir seit ein paar Wochen begonnen haben. Was immer es sein mag. Und überhaupt. Vielleicht zieht er sich auch zurück, wenn ich es ihm gesagt habe. Wer weiß? Ich weiß auch gar nicht, wann ich ihn wiedersehen werde. Als es Zeit ist zu meinen Kunden aufzubrechen, stehe ich auf und lasse die Kapelle hinter mir. Ich werde nach dem Gespräch mit Josi noch einmal herkommen. Noch immer wie betäubt.
Im Wartezimmer meiner Gynäkologin läuft das Radio. Wir müssen noch warten. Ich halte mich an meinem Handy fest und schreibe einen Post. Ich will nicht schreiben, was los ist. Aber trotzdem will ich ein Signal nach da draußen senden, dass etwas geschehen ist. Dass sich etwas wirklich Wichtiges ereignet hat. Eine Verschiebung der tektonischen Platten meines Lebens. Über eine knappe Andeutung komme ich nicht hinaus. Zu gravierend ist diese Situation, als dass ich bereits jetzt schreiben kann, dass ich Krebs habe.
Michael und ich sprechen kein Wort während wir warten. Warum bekomme ich Krebs, während meine Ehe auf dem Nullpunkt ist und ich einen anderen Mann liebe? Kannste dir wirklich nicht ausdenken! Als Josi ins Wartezimmer kommt, nimmt sie zuerst Michael und dann mich erstmal in den Arm. „Wir haben es uns ja schon gedacht…“ sagt sie noch einmal. Ich nicke und sage zur Bestätigung noch „ja“, als ob mein Nicken nicht ausreicht. Dann folgen Infos zur Tumorbiologie. Der Tumor ist gut behandelbar. Kein Exot. Ich muss mich aber direkt entscheiden, in welchem Brustzentrum ich mich behandeln lassen will. Josi wird für mich einen Termin im Brustzentrum meiner Wahl vereinbaren. Ob ich Chemotherapie bekomme, ist zu diesem Zeitpunkt noch fraglich. Schließlich machen wir uns auf den Heimweg. Mein Weg führt mich noch zur Kapelle. Knapp 7 Stunden nachdem ich erfahren habe, dass ich einen bösartigen Tumor in meiner rechten Brust habe, sitze ich wieder dort oben und versuche Ordnung in meine Gedanken zu bringen, die wie eine Schafherde bei Gewitter durcheinanderwirbeln. An diesem Abend ein ambitioniertes Unterfangen.