Annette fragt… Anna Farris
Anja Caspary: In meinem Herzen steckt ein Speer
Kurz und knapp: Um was geht´s?
Anja Caspary beschreibt in diesem Buch aus zwei Erzählperspektiven das Jahr 2015, in dem sie gleich mit zwei Krebsdiagnosen konfrontiert wird: ihrer eigenen (in der Ich-Form) und der ihres Mannes (in diesen Kapitel spricht von sich in der dritten Person, „sie“). Die Autorin hatte gerade ihren Job als Musikchefin des Programms „Radio Eins“ beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) angetreten und bekam quasi zeitgleich die Diagnose „Brustkrebs“. Sie entscheidet sich gegen eine Chemotherapie, lässt eine beidseitige Mastektomie vornehmen, ändert ihre Ernährung radikal und lässt sich alternativmedizinisch behandeln. Nach ihrer Operation wurde bei ihrem Mann, Hagen Liebig, dem früheren Bassisten der Band „Die Ärzte“ ein Gehirntumor entdeckt, an dem er nach kurzer Zeit verstirbt.
Zusatz-Gimmicks:
1. Die Überschrift zu jedem Kapitel ist der Titel eines Songs, der in irgendeiner Art und Weise in diesem Kapitel auftritt oder einen Bezug zum Text und dem Geschehen darin hat. Bei Spotify gibt es eine Playlist mit den „Songs zum Buch“, der quasi mein Soundtrack beim Schreiben dieses Blogtextes war. Lust, mal reinzuhören?
https://open.spotify.com/playlist/0ovbcwDVQDnGg6z8rUNsOk?si=5074e532c3b245ca
2. Das Buch enthält einige Schwarzweißfotos aus dem Privatbesitz von Frau Caspary sowie die Traueranzeige anlässlich Hagen Liebigs Tod.
Ich empfehle das Buch für alle,
die mit schonungsloser Offenheit umgehen und es ertragen können, wenn das „Thema Tod“ am Ende einer Krebserkrankung steht. Ich empfehle, es nicht unmittelbar während der Akuttherapie zu lesen, da Frau Caspary mit ihren krassen Ansichten und knallharten Entscheidungen, die nicht immer konform gehen mit dem „allgemeinen guten Mood“ nicht hinterm Berg hält und ihre tiefen Emotionen– gut wie schlecht, fröhlich wie traurig – klar benennt und auslebt. Das kann die eine oder den anderen LeserIn mitunter verstören.
Ich mag das Buch, weil…
es unfassbar offen ist, sich unfassbar mutig über Tabus hinwegsetzt und dennoch unfassbar liebevoll geschrieben ist. Ich schaue voller Ehrfurcht auf die große Liebe, die Frau Caspary und ihren Mann – ihr Babe, wie sie ihn nennt – verbunden hat und über den Tod hinaus verbindet (Er kann es nicht mehr. Also lebt sie für ihn mit.) Das Ablehnen der Chemotherapie und die beidseitige Mastektomie, eine konsequente Ernährungsweise, alternative Therapiewege und ihr teilweise harter Umgang mit sich selbst mögen für mancheinen befremdlich sein, ich hingegen finde es sehr respektabel wie sie ihren Weg geht, auch wenn sie damit teilweise aneckt und provoziert.
LESEPERLEN aus „In meinem Herzen steckt ein Speer“
Herrlich ehrlich!
Habe ich Angst vor dem Tod? Ja, ich habe Angst davor, nicht mehr hier zu sein. Das Sterben macht mir keine Angst, ob es weh tut, ist mir egal. Aber ich will hier auf der Erde bleiben. Unbedingt. Ich will leben. Noch lange. Will meine Kinder groß werden sehen, meine Enkel erleben. (…) So wie es (…) überhaupt normalerweise allen vergönnt ist. Ich will nicht so jung sterben. Ich will keine nKrebs haben.
Genauso ist es…
Sie hat sich verändert. (…) Vieles ist einer unaufgeregten Gelassenheit gewichen. Denn nichts ist mehr schlimm. Stress? Befindlichkeiten? Wichtigtuerei? Neid? Gerede? Verrat? Ein Schulterzucken. Dringt nicht durch. Ist des Echauffierens nicht wert. (…) Weil sie keinen Sinn für Oberflächlichkeiten hat. (…) Das hat das Jahr, das alles veränderte, mit ihr gemacht.
Sprachliche Fundstücke
fragwürdige Schmalzlieder = Songs, die ihr beim Motorradfahren durch den Kopf gehen („Un-Break my Heart“ von Toni Braxton oder „Islands in the Stream“ von Dolly Parton)
die Grauen = die Arbeitskollegen von Hagen, die bei seiner Beerdigung allesamt unter absolutem Schock stehen
Schicksalstermin = Gespräch über die bevorstehende Mastektomie
Humor statt Tumor
Sie findet ihn am Schreibtisch, seine Unterschrift übend. Immer wieder auf einem leeren Blatt (…) Weil der Notar nicht merken darf, was mit ihm los ist. Sonst zweifelt er vielleicht an seiner Geschäftsfähigkeit. „Ein Idiot mit weicher Birne darf doch kein Testament unterschreiben!“
Gänsehautmoment
Als ich nach Hause komme, empfängt mich niemand am Gartentor. Hagen sitzt auf dem Sofa. Er steht mühsam auf, er lächelt nicht, sein Gesicht ist starr. Er bleibt mitten im Wohnzimmer stehen (…). Das Sprechen fällt ihm schwer, er sagt: (…) Das soll aufhören.(…) Ich verstehe ihn.“
Positive Brillengläser
Ist sie glücklich? Ja. Weil sie gelernt hat zu ertragen. (…) Gelernt hat, nicht zu zweifeln, nicht um sich selbst zu kreisen. Nicht zu denken. Wo nichts zu ändern ist, bleibt nur es anzunehmen. Die totale Annahme. Nicht flüchten und den Rücken kehren, sondern sich stellen. Und durch den Schmerz gehen, physisch und seelisch. Und dann den Schmerz wieder auflösen, sich dem Speer aus dem Herzen ziehen und die Lebensfreude wiederfinden.
Insider-Wissen:
In einem Podcast-Interview habe ich neulich erfahren, dass der Buchtitel eigentlich eine Textzeile aus einem Rammstein-Song ist.
Mehr über die Autorin:
Hier gibt es eine Online-Lesung zum Buch von Anja Caspary: https://www.radioeins.de/programm/sendungen/sendungen/368/2108/210815_sondersendung_14310.html
Ein ausführliches Interview mit ihr:
https://www.tip-berlin.de/stadtleben/anja-caspary-interview-jetzt-muss-ich-lernen-einsam-zu-sein/
Ein Interview mit tollen, ganz ehrlichen, ganz klaren Fotos:
https://heyday-magazine.com/2021/06/11/mich-kann-nichts-mehr-erschuettern/
Podcast, in dem sie über Lieder spricht, die ihr Leben bereicherten. Spannend:
Instagram-Account: https://www.instagram.com/anjacaspary/
Hier geht’s zu meiner Krebs-Bestsellerliste mit den Links zu den anderen Rezensionen: https://www.influcancer.com/blog/annettes-krebs-bestsellerliste/