Ines Gillmeister: Rock den Himmel, mein Held
Beim Schreiben eines neuen Blogtextes (Spoileralarm!) bin ich in meinem Bücherregal auf das Buch von Ines Gillmeister gestoßen, das ich schon vor längerem gelesen habe und mir beim Schreiben eines Blogtextes wieder in die Hände gefallen ist. Beim erneuten Querlesen war mir schnell klar: Obwohl dieses Buch nicht aus der Sicht einer selbst an Krebs erkrankten Person geschrieben ist wie die anderen von mir vorgestellten, bekommt es einen Platz auf meiner persönlichen Krebs-Bestsellerliste. Dieses Buch ist ein berührendes Andenken einer liebenden Ehefrau an ihren verstorbenen Mann, den Vater ihrer Kinder. Gleichzeitig ist es ein absolutes Mutmachbuch, das voller Anteilnahme und Hilfsbereitschaft steckt.
Es hat eine ganz eindeutige Message: Das Leben ist zu schön, um es kampflos aufzugeben! So ein Buch kann ich euch, treuen Blogleserinnen und -leser, doch nicht vorenthalten, oder was meint ihr?
Ich empfehle das Buch für alle,
die es aushalten können, dass dieses Buch kein „Happy End“, sondern ein realistisches Krebs-Ende hat, an dem der Titelheld medikamentenbedingt unter Wahnvorstellungen leidet, er nicht mehr am alltäglichen Familienleben teilnehmen kann und zuletzt stirbt. Dennoch ist das Buch keine Tragödie, sondern phasenweise sehr lustig, denn Ines berichtet vom normalen Alltagswahnsinn in einer Familie mit (Klein-)Kindern. Sie beschreibt deren Essenssspleens, Spielzeugvorlieben und Schlafgewohnheiten.
Außerdem ist das Buch ein Traum für Eisfans, das einen „Frühling der Fotos von eisessenden Kindern mit streuselverzierten Gesichtern.“ heraufbeschwört und die Leserinnen und Leser alle paar Seiten lang einen „Zuckerschock“, der den Personen im Buch „den Tag [rettet]. Immerhin für ein paar Minuten.”
Auch romantisch veranlagte Leute kommen beim Lesen auf ihre Kosten, denn – Spoiler! – es gibt sogar eine absolut heldenhafte Hochzeitsszene in diesem Buch. Die Idee, monatlich Hochzeitstag zu feiern, weil die Silberhochzeit wohl ausfallen wird, beschert außerdem einige romantisch-liebevoll-zärtliche Szenen.
Nicht zuletzt steht auch etwas Landeskunde auf dem Programm, da Ines und ihre Bande ab und zu Ausflüge in die nähere Umgebung oder auch schon mal eine weitere Reise unternehmen.
Kurz und knapp: Um was geht´s?
Ines Gilmeister ist Witwe und Mutter zweier Kinder. In ihrem absolut ehrlichen und sehr berührenden Buch lässt sie die Zeit vom Kennenlernen ihres Mannes Simon bis zu dessen Tod Revue passieren. Sie nimmt die Leserinnen und Leser ganz nah mit und erzählt von ihrer Schwangerschaft, die parallel zur Blutkrebs-Diagnose ihres Mannes verläuft, von seiner Remission und dann der erneuten Erkrankung nach vier Jahren, von einem Sponsorenlauf und der Suche nach einem Stammzellenspender, weil „Papas Blut kaputt ist”.. Die Familie hangelt sich ausgehend von einer Bucket List, also einer „Liste mit „Dingen, die wir unbedingt noch gemeinsam mit Papa machen wollen“ an kleinere und durchaus auch großen Abenteuern wie der Reise ins Disneyland durch den nicht immer rosigen Alltag. Ziel dabei war es, dass die Kinder „sich an die schönen Dinge mit Papa erinnern, nicht an den Krebs.”
Zusatz-Gimmicks:
- Auf dem Cover und dem Umschlag des Buches findet man einige private Fotos von Simon, Ines und den Kindern.
- Ines hat Simons Weg von Anfang an auf einem Blog mit dem aussagekräftigen Namen “Cancer is an aushole”.
- Dort findet sich auch die Bucket List, die Simon und sie erstellt haben. Manche davon sind durchgestrichen, andere sind noch offen.
Ich mag das Buch, weil…
Ines auf eindrucksvolle Weise zeigt, wie in einer Familie mit dem unausweichlichen Schicksal „Tod” Momente voller Leben, voller Glücksgefühle möglich sind. Sie ließ mich im Wechsel weinen und lachen und mich beim Lesen absolut lebendig fühlen.
Mir gefallen die vielen Szenen in diesem Buch, die in der Lieblingseisdiele der Familie Gillmeister spielen. Anfangs sind dort regelmäßig alle vier anzutreffen, mit zunehmender Verschlechterung von Simons Zustand geht sie mit den Kindern alleine dorthin und „mit der Zeit saßen [sie] jeden Tag nach Schule und Kita dort“. (…) „Hin und wieder gab es sogar zwei Kugeln und ganz wichtig: extra viele Streusel. Die knusperten so schön im Mund, waren bunt und, machten, wenn auch nur kurz, fröhlich“.
Es ist wundervoll, wie viel Liebe in diesem Buch steckt. Schon allein das Vorwort zu diesem Buch, einem Brief von Ines, der mit „Mein geliebter Held Simon“ überschrieben ist und indem sie sich bei „einem der großartigsten Menschen, den [sie] jemals kennenlernen durfte“ für zehn gemeinsame Jahre bedankt, ist Liebe pur. Man spürt auf jeder Seite des Buches, dass Simon, „der Krümel mit dem Fotolächeln (…)[Ines] persönlicher Superheld“ gewesen war und das verursachte mir alle paar Seiten Gänsehaut.
Ich verneige mich vor Ines und ihren Kindern, die ihren Weg im Leben 2.0 nun schon seit vielen Jahren alleine gehen müssen. Sie leben und sie schaffen das!
LESEPERLEN aus „Rock den Himmel, mein Held!“
Herrlich ehrlich!
Ich glaube nicht an Gott, aber ich glaube an das Schicksal und dran dass es einem nur so viel zumutet, wie man in der Lage ist zu ertragen. Ich bin der Überzeugung, dass jeder Mensch dieser Welt sein Päckchen zu tragen hat. Keines davon ist größer oder kleiner. Alles sind gleich schwer,. Für jeden ist sein Päckchen besonders schwer zu tragen. Die Kinder und ich– wir würden Simons Päckchen mittragen., in der Hoffnung, dass es dadurch etwas leichter würde. Nicht, weil ich ein toller Mensch bin, sondern weil Simon einer ist!
Genauso ist es…
Ich begriff gar nichts. Oft ertappte ich mich dabei, wie ich [Simon nach seinem Tod] Bilder von den Kindern schicken wollte, Fotos auf sein Handy. Regelmäßig setzte ich Wasser auf, um ihm Couscous zu kochen, und merkte erst beim Griff zur Minze, was ich tat. Bis heute begreife ich gar nichts.
Sprachliche Fundstücke
Krümel = Simons Pseudonym auf der Dating-Plattform, auf der er Ines trifft lautet „Smallcrumb“, d.h. Krümel auf deutsch
Krabbe = Simons Krebs, dem Emma und Ines den Namen „Kunibert“ geben
Heldenkinder = Simon ist absoluter Star Wars-Fan und daher stammt wohl die Heldenmethaphorik
Befreiungsschlag = so bezeichnet Ines Simons Todestag am 6.7.2018: „Du hast gesiegt, über Kunibert und deine ständigen Schmerzen. Es war dein Tag.“
Batman/Miniheld/Superheld Nr. 2/Superheldenkind = der Sohn von Ines und Simon, der im echten Leben „Leo“ (eigentlich sogar „Leonard“ heißt
Papa Eins = ehemaliger Partner von Ines, Vater ihrer Tochter
Momo-Papa = Emma sprach drei Worte, als sie Simon kennelernte: Tomate, Mama und Momo, das zu seinem Spitznamen wurde
Einhornbändigerin = Emma, die Tochter von Ines, die sie bis zum Kennenlernen von Simon, alleine großgezogen hat. Sie liebt Einhörner und lebte gern mit ihnen zusammen in einer Fantasiewelt aus „Zuckerwattewolken, Bäume[n] mit saftig-grünen Kronen, Feen mit Glitzerflügeln“
Chemoritter = Ines erklärt ihren Kindern, dass Simon von den Ärzten Medizin bekommt, „die wie kleine Ritter mit ihren Schwertern in Momos Blut gegen die Krabbe kämpfen (…) und wenn es besonders anstrengend (..) wird, kann es auch sein, dass Momos Haare ausfallen. Das zeigt, dass die Ritter einen guten Job machen.“
Zaubermedizin = Emma füllt ein Röhrchen aus ihrem Spielzeug-Arztkoffer mit Glitzer und gibt es ihrer Mama für Simon mit in die Klinik
Ritterrüstung = Simon muss ein Boston Korsett tragen, um seine durch die Krankheit gebrochenen Wirbel im Rücken zu stützen
„Bist-du-jetzt-zufrieden?-Blick“=nach dem Ende seiner zweiten Chemotherapie ist Simon müde, kraftlos und mies gelaunt und Ines zwingt ihn zu Spaziergängen an der frischen Luft, auf denen er mit grimmigen Gesicht mit ebendiesem Blick in die Kamera schaut
Mutpillen und Kraftpillen = Ines sinniert, warum man in der Apotheke giftiges Zeug kaufen kann, mit den man den Körper vergiftet, damit die Krabbe [den Krebs] draufging, aber diese zwei Medikamente für Angehörige von KrebspatientInnen nicht verfügbar waren
Stammzellensuperheld = genetischer Zwilling von Simon, also diejenige Person, die vom Profil genau auf Simon passt undihm deshalb Stammzellen spenden und somit sein Leben retten könnte
Geheimversteck = Simons Sarg
Himmelspost = Am Tag von Simons Tod hat Ines Schwägerin, um Leo zu beruhigen, die Idee, Simon einen Brief in den Himmel zu schicken. Das beruhigt das Kind und es wird sogar sonniger. Auf Simons Beerdigung lassen die Gäste ebenfalls Luftballons mit Briefen und Bildern steigen. Später wiederholt Ines dieses Ritual noch eine ganze Weile immer freitags
Humor statt Tumor
Am Tag hörte Simon oft Musik und war sich bewusst, dass etwas nicht stimmen konnte, da stmiche Stereoanlagen ausgeschaltet waren. Er konnte mir immer genau sagen, was er gerade hörte, und von furchtbaren Dingen wie Volksmusik über Heavy Metal war alles dabei. Eines Abends, wir saßen in unseren Schaukelstühlen auf der Terrasse und Simon war kurz davor einzuschlafen, meinte er „Ich höre gerade Time of my life aus Dirty dancing.“ Das war irgendwie romantisch. Freakxy spooky, aber auch romantisch.
Gänsehautmoment
Wir saßen im Außengelände der Klinik, er im Rollstuhl, ich neben ihm auf der Bank. Wir sprachen über Emma. Dann, völlig unvorbereitet, fragte er mich „Sag mal, Kreis hab´ ich aber nicht, oder? Mit „bösartig“ hat der Arzt etwas anderes gemeint, nicht?“ Meine Kehle war wie zugeschnürt, das Baby in meinem Bauch hörte auf zu strampeln und ich hielt die Luft an. Ich überlegte kurz, ihn anzulügen. Mein Mund öffnete sich, um etwas zu sagen, mein Hirn aber schrie mich an, ruhig zu bleiben. Ich wollte etwas sagen, konnte s jedoch nicht Offensichtlich hatte unser Held noch wenige verstanden, was vor sich ging, als ich. Oder er war besser im Verdrängen. (…) So saßen wir dort, eine gefühlte Ewigkeit. Irgendwann versuchte ich, ihm alles noch eimal zu erklären. (…) Es sei nicht heilbar (…). Simon nickte und sagte: „Das ist scheiße.“ Richtig, mein Schatz, das war es.
Positive Brillengläser:
Und mit Sicherheit war nicht alles umsonst“, fuhr ich nach einer Weile fort[…]. „Denk doch mal daran, was wir über meinen Blog mit deiner Geschichte erreicht haben. Deinetwegen konnte anderen Menschen geholfen werden, mein Held, vergiss das nicht.“ „Ja.“ Simon nickte. „Du hast Recht, es ist schon irgendwie tröstlich, dass es wenigstens für andere gereicht hat.“
Insider-Wissen:
Simons Wunsch war es, dass seine Geschichte anderen Menschen Mut machen sollte und in einem Buch veröffentlicht werden sollte und deshalb wurde dieser Punkt auch auf die Bucket List der Familie gesetzt. Ines erinnert sich im Vorwort des Buches daran: Du hast Dir immer gewünscht, dass Deine Geschichte in einem Buch festgehalten werden wird. Nicht weil Du Ruhm und Ehre wolltest, sondern um zu zeigen, dass ein Leben auch mit einer unheilbaren, schweren Krebserkrankung weitergehen kann, dass ein Leben mit Krebs so viel mehr beinhalten kann als Kotzeimer, Glatze und Trübsal. Ich versuche nun, Deinen Wunsch zu erfüllen.
Meiner Meinung nach ist Ines Gillmeister das mit diesem Buch hundertprozentig gelungen und ich schlage vor, dass wir alle in Gedenken an ihren Simon heute ein Eis essen. Am besten eins mit zwei Kugeln. „Ganz groß (…) Stracciatella und Schokolade, die Lieblingseissorten des Helden.“ Und – warum nicht eskalieren? – zusätzlich könnten wir doch einen Luftballon für unsere Lieben da oben in der Himmelswelt steigen lassen. Bist du dabei?
Wollt ihr Helden sein?
Bei der Suche nach einem Stammzellenspender für Simon war für ihn leider kein passender dabei. Aber es haben sich 1000 neue Stammzellenspender bei der DKMS (Deutschlands größte Stammzellspenderdatei) registrieren lassen!
Seid auch du dabei, liebe Blogleserin und lieber Blogleser! Nutze doch die Tatsache, dass du gerade im Internet bist und surfe direkt rüber auf https://www.dkms.de/registrieren.
Schau gleich nach, ob du als Spenderin oder Spender in Frage kommst, lass dich ggf. registrieren und hilf dabei, Leben zu retten. Es ist wirklich ganz leicht: Mund auf, Stäbchen rein, Spender sein.
Mehr über die Autorin:
Instagram-Account von Ines, auf dem sie immer wieder von früher, aber ganz viel aus dem jetzigen Leben mit Emma und Leo erzählt
Interview mit Ines auf dem Blog Minimenschlein
Interview in der Kölnischen Rundschau
Interview auf Focus Online
Interview im Südkurier
Artikel in der Ostsee-Zeitung
Ines zu Gast im BB Radio Mitternachtstalk
Hier geht’s zu meiner Krebs-Bestsellerliste mit den Links zu den anderen Rezensionen: https://www.influcancer.com/blog/annettes-krebs-bestsellerliste/