Annette fragt… Anna Farris
Leben nach Krebs: Leben am ZAUN
In der Insta-Brustkrebs-Community umschwirren mich derzeit traurige Nachrichten. Frauen, die ihre Diagnosen im selben Zeitraum erhalten haben kämpfen um ihr Leben. Im privaten Leben bin ich mit Metastasen bei meiner Schwiegermutter konfrontiert. Auch im Bekanntenkreis ein Rezidiv. Im Promileben gab es gerade auch die Nachricht eines Brustkrebstodes. Das Schicksal all dieser Brustkrebsheldinnen triggert mich.
Dabei kam mir das Bild eines ZAUNES in den Sinn. Von dem möchte ich euch in diesem Blogtext erzählen.
Zaungast beim Krebskonzert
Denn immer wenn ich eine solche Hiobsbotschaft höre, fühle ich mich wie ein ZAUNgast bei einem Konzert, das auf der anderen Seite des ZAUNes läuft. Ich wurde weder offiziell dazu eingeladen noch habe ich mir eine Karte gekauft. Aber dennoch bin ich dabei. Ich höre die Musik herüberwehen, mal leiser und mal lauter. Je nachdem, ob ich mich gerade vor oder nach einer Nachsorgeuntersuchung befinde. Je nachdem, ob ich gerade eine Nacht hatte, in der mich die Angst vor einem Rezidiv besucht hat oder wenn ich gerade herrlich entspannt mit einer nicht-krebsbetroffenen Personen über „Alles, aber nur nicht über Krebs!”spreche.
Im Moment sitze ich als Zuschauerin auf der gesunden Seite des ZAUNes. Das wurde mir gestern bei der ersten Gyn-Nachsorgeuntersuchung im Jahr 2023 offiziell bestätigt und der Kardiologe hat heute mit einem herrlich relaxten Herzlein nachgelegt. Das fühlt sich schön an. Das macht mich froh. Ich bin unendlich erleichtert.
Aber auch wenn ich auf meiner Seite sitze und mich Latten von den Konzertsänger*innen trennen, ist der ZAUN oben offen und hat Gucklöcher, Zwischenräume. Ich kann das unschöne Spektakel auf der anderen Seite sehen und hören. Ich kann die Emotionen und Gedanken sowie die Schmerzen der Protagonistinnen nachempfinden.
Der ZAUN hindert mich nicht daran, das Elend gegenüber zu erkennen. Denn auch wenn ich versuche, auf Abstand zu gehen, kann ich die schlechten Nachrichten von der anderen Seite nicht ignorieren: Ich höre von Neuerkrankungen, von Rezidiven, von Metastasen.
Das alles geht mir nah, geht mir sehr nah. Ich nehme Anteil daran, ich weine Tränen um die traurigen Schicksale von Frauen, die ich teilweise gar nicht persönlich kenne. In meinen Tränen steckt auch immer ein bisschen Weinen um mich selbst darin. Und auch Wut, Wut auf diesen Krebs, der mir dieses Sitzen vorm ZAUN aufgebürdet hat.
Darf ich mich freuen?
Und wenn ich genauer über das alles nachdenke, dann frage ich mich: Habe ich eigentlich noch alle Latten am ZAUN? Darf ich lachen, während auf der anderen Seite gerade Trauerlieder gespielt werden? Darf ich freudig ein Feuerzeug in meinem Krebskonzert schwenken, während gegenüber Trauerkerzen brennen?
Hm…
Ich bin mir zu hundert Prozent bewusst, dass eine Auffälligkeit, eine kleine Änderung im geplanten Ablauf – so wie ich es letzten Herbst mit meiner Gebärmuttergeschichte hatte – mich ganz schnell auf dem ZAUN Platz nehmen lässt. Dann spüre ich die morschen Latten und es tut weh. Auch wenn es noch nicht „das ganz Schlimme“ ist, auch wenn es „nur“ eine Folge der Krebserkrankung ist, aber keine Neuerkrankung, kein Rezidiv, keine Metastasierung.
Doch leider, leider kann es ja sein, dass gerade jetzt in diesem Augenblick irgendeine Zelle in meinem Körper mutiert oder sich Zellen daran erinnern, dass es doch mal tumorige Zeiten gab und sie gern in diese Zeit zurück möchten.
Dann, ja dann, muss ich komplett die Seite wechseln. Dann bin ich ganz schnell kein ZAUNgast mehr, sondern bekomme eine Rolle im Krebskonzert zugewiesen. Denn dieser Krebs ist ein Mistkerl, der immer wieder kommen kann, wenn es ihm passt. Dann ist das Gras auf meiner Seite nicht mehr grüner als bei den anderen, dann bin ich wieder Teilnehmerin im Krebskonzert angekommen mit offiziellem Ticket.
Doch für den Moment, für das fühl- und begreifbare Jetzt hier auf meiner Seite ist mein Aufregungslevel gesunken. Ist meine Angst kleiner. Ist meine Unsicherheit weg. Jetzt gerade ist auf meiner ZAUNseite alles gut. Das Gras ist grün. Und das ist für mich und meine Herzensgang wunderbar. Ich bin unendlich dankbar, demütig und froh.
Deshalb flüstere ich mir zu: „Ja, ich darf mich freuen! Ja, ich darf lachen! Ja, ich darf glücklich sein!”Deshalb werde ich mein Feuerzeug schwenken! Deshalb werde ich mein Leben feiern, in Worten wie in Taten. Heute Abend zur Feier des guten Nachsorgeergebnisses (in Reminiszenz an meine Herzensärztin, die mir schon zu Beginn meiner Erkrankung mit auf den Weg gab, jeden guten Befund zu feiern) gemeinsam mit dem Göttergatten einen Schluck (alkoholfreien) Sekt trinken, dem Goldkind eine neue Tonie-Figur kaufen und dem Teeniemädchen und dem Mittelstürmer etwas längere Medienzeit gönnen. Die kleinen Dinge des Lebens erfreuen doch sowieso am meisten, oder?
Lasst uns träumen
Im Alltag, wenn eine Nachsorgeuntersuchung nach der anderen befundlos bleibt, wenn man sich wieder eingegroovt hat zwischen Haushalt, Arbeit und Freizeitaktivitäten, ist für das Umfeld nicht ersichtlich, dass du am Zaun entlang gehst oder dich wie ein/e Seiltänzer/in fühlst, die einen Balanceakt auf dem ZAUN vollführt und das jedes Mal aufs Neue, wenn etwas im Körper zwickt, wenn nachts die Angst kommt oder wenn ein Nachsorgetermin ansteht..
Leute, die noch nicht auf der anderen Zaunseite waren, wissen nicht, wie es dort aussieht, wissen nicht, wie es sich dort anfühlt. Sie stehen vorm ZAUN und blicken nicht hinüber. Das ist normal, das ist verständlich. Man kann – und will – sich nicht vorstellen, an einer potentiell lebensverkürzenden Krankheit zu leiden.
Aber ich werde darauf achten, dass das Licht meines Feuerzeugs auf beiden Seiten des ZAUNes leuchtet. Es soll denen Kraft geben, die gerade mutlos sind und auf ein Wunder hoffen. Es soll denen Hoffnung schenken, die gerade im Wartezimmer bibbern. Es soll ihnen zeigen, dass ich ihrem traurigen und niedergeschlagenen Konzert beiwohne, auch wenn ich mir nachher vom Mittelstürmer auf der Trompete einen Tusch blasen lasse.
Als ich eine kürzere Version dieses Textes auf Instagram veröffentlichte, erhielt ich viele Kommentare. Sowohl von Menschen, die auf meiner ZAUNseite sitzen als auch von denen auf der anderen Seite. Sie alle riefen mir zu, dass es ok ist, das Feuerzeug anzuzünden, es so hoch es geht zu schwenken und manchmal sogar die ganze Pyrotechnik abzufeuern. So wie ich von der gesunden Seite auf ihre kranke Seite herüberlinse, tun sie es von dort aus auch in meine Richtung. Sie möchten nicht permanent in Moll singen, manchmal muss es hellklingendes Dur sein. Wir alle wollen und sollen und dürfen leben, lachen, lieben, solange es geht, so laut es geht.
Vielleicht kramst du nach dem Lesen dieses Textes ebenfalls ein Feuerzeug aus deiner Kommode oder entzündest wenigstens ein Streichholz. Für diejenigen, die gerade Abschied nehmen, für diejenigen, die gerade mit einem Fortschritt ihrer Erkrankung klarkommen müssen, aber auch für mich, der es gerade gut geht und nicht zuletzt für dich selbst, egal auf welcher ZAUNseite du stehst, egal, in welcher Lebensphase du gerade bist.
Lasst uns Lichter anzünden, immer, überall und auf beiden Seiten des ZAUNes! Ich bin bin mir sicher, dass überall, wo es hell ist, weniger Angst wohnt und dass das Hoffen und das Träumen ihren Raum bekommen. Lasst uns auf ein Wunder für all diejenigen hoffen, die gerade traurig sind, lasst uns das Träumen vor, hinter und auf dem ZAUN nicht verlernen!
Heute mache ich auf meiner Seite die Musik an und lasse Silbermond für mich und uns alle ihren Song „Bestes Leben“ singen. Egal, ob du gerade krebsfrei oder krebskrank oder noch nie mit Krebs zu tun hattest. Hörst du die Musik zu dir wehen, egal, auf welcher Seite des ZAUNes du dich gerade befindest?
Heute ist schön, heut ist geborgen.
Morgen vielleicht schon nicht mehr.
Aber es ist mir egal, heute knallen Korken.
Und ich schau in meine Lieblingsgesichter.
Das Leben ist schnell wie der Wind.
Ein Glas auf alle, die schon gegangen sind.
Und deshalb muss ich’s euch sagen, ich liebe euch alle.
Komm, wir bleiben, komm, wir feiern, komm, wir fallen raus!