Du bist was du isst
Und plötzlich hatte ich Brustkrebs…
„Sie haben da einen kleinen Brustkrebs.“ Dieser Satz setzte am 4. November 2020 gegen 17 Uhr auf einen Schlag mein komplettes Leben auf Null. Auf Tiefpunkt. Auf Stillstand. Rückblickend betrachtet aber auch auf Innehalten. Auf Umdenken. Auf Anpacken. Auf Neustart. Aber davon war ich in diesem Moment noch weit entfernt.
Ich saß im grauen Strickpulli, weißer Bluse, blauer Destroyed Skinny Jeans und Chelsea Boots vor Frau Dr. F.. Mein Gesichtsausdruck, die Tränen in den Augen und die aufkommenden Gedanken entsprachen allerdings weniger der Lässigkeit meiner Kleidung als vielmehr der im Zimmer herrschenden Kälte. Das Fenster hatte bis zu meinem Eintreten sperrangelweit offen gestanden. Lüften im Kampf gegen Corona.
„Krebs?!? Das geht doch nicht. Mein Mann! Die Kinder! Die Schwiegermutter! Meine Eltern!“ Ich blubberte irgendwelche Dinge vor mich hin, stand plötzlich auf, setzte mich wieder. Begann wieder von vorne: „Krebs?!? Das geht doch nicht…“
Leider ging es wohl doch… Frau Dr. F. bewies es mir mit Ultraschallbildern, Mammografie- und Biopsie-Untersuchungsbefunden: Ich, Annette Holl, 42 Jahre alt, Mutter von drei Kindern, verheiratet, Grundschullehrerin, Autorin, hatte einen Knoten in der rechten Brust.
Wie war es dazu gekommen, dass ich zum dritten Mal innerhalb von zehn Tagen in diesem kalten Zimmer vor der sympathischen blonden Ärztin saß?
Vom Zufallsfund beim Frauenarzt zur Mammografie
Begonnen hatte es ein paar Wochen zuvor bei meinem Frauenarzt. Der stellte bei einer Krebsvorsorgeuntersuchung festm dass ich in der rechten Brust eine Zyste hatte. Zumindest nannte er sie so. Mit einem Überweisungsschein und den Worten „Lassen Sie das sicherheitshalber in der Klinik abklären.“ verließ ich seine Praxis.
Völlig unbeeindruckt begab ich mich zu Hause sofort an den Computer und rief die Webseite der Klinik auf. Mit einem einfachen Klick vereinbarte ich online einen Termin in den bevorstehenden Herbstferien. Ich dachte noch: „Das passt ja perfekt, weil der Göttergatte da sowieso frei hat und dann auf die junge Bande aufpasssen kann!“ und hängte den Überweisungsschein an unsere Magnetwand. Thema abgehakt.
Der Gedanke, dass irgendetwas anders sich hinter dieser Zyste verbergen konnte, kam mir eigentlich erst am Nachmittag nach dem Termin bei Frau Dr. Franz. (Am Rande bemerkt: Diese Ärztin war ein zufälliger, aber absoluter Glücksgriff! )
Sie hatte in der Früh einen Ultraschall gemacht, dieselbe Auffälligkeit gesehen wie mein Arzt und diese auch als Zyste bezeichnet. Pragmatisch – oder eher naiv? – hatte ich mich zu einer Mammografie noch in derselben Woche entschieden. Sie hatte zwar gemeint: „Alternativ können Sie Ihrer nächsten Periode nochmal zum Ultraschall vorbeikommen und überprüfen lassen, ob die Zyste dann weg ist.“ Das ist wohl eine Eigenschaft dieser runden ungefährlichen Brustbewohnerinnen. „Ich persönlich würde aber wohl gleich nachschauen lassen, um beruhigt zu sein, dass es nichts Schlimmeres ist.“ Ob Frau Dr. F. das bewusst so geäußert hatte, um mir die Ernsthaftigkeit der Lage nicht ganz offenzulegen, mich aber doch in die entsprechende Richtung zu lenken, bleibt ihr Berufsgeheimnis.
In meinem Fall hat sie jedenfalls erreicht, was rückblickend das einzig Richtige war: Ich würde schon drei Tage später zur Mammografie ins Krankenhaus zurückkommen. Den nächsten Satz: „Falls die Mammografie die Zyste auch zeigt, können wir diese gleich punktieren.“ hörte ich zwar. Ich speicherte aber nur ab: „Wenn es eine Zyste ist, zerfällt sie bei der Punktierung.“´Um genau zu sein, speicherte ich sogar nur “zerfällt“ in dieser ganzen Erklärung ab.
Mein Mann hingegen reagierte etwas brummig, weil die Ärztin in der Klinik ja eigentlich dasselbe gemacht hatte wie mein Frauenarzt und erst die Mammografie wirklich zeigen würde, ob alles in Ordnung war. Ahnte er unbewusst schon etwas? In meinem Kopf gab es aber weiterhin nur die Wörter „Zyste“, „zerfallen“ und die Aussicht auf den ersten Kinobesuch unserer Jüngsten, den wir an diesem Nachmittag vorhatten. So tat ich sein nachdenkliches Brummeln einfach ab. „Was soll denn schon los sein?“ Es folgte ein spaßiger Nachmittag mit Popcorn, großer Leinwand und strahlenden Kinderaugen.
Quetschmomente
Am Tag der Mammografie war ich dann unerwarteterweise doch etwas hibbelig und machte mir Gedanken über die richtige Kleiderwahl für diese Untersuchung. Eigentlich komisch, da sie ja doch eher unbekleidet stattfinden würde… Ich wählte ein schwarz-weiß-gestreiftes lockeres Oberteil, das leicht über den Kopf zu ziehen war.
Den Vormittag verbrachte ich wie schon die Tage zuvor mit meinem Teeniegirl und half bei der Vorbereitung einer Buchpräsentation. Ich war also eigentlich gut abgelenkt, aber irgendwie doch nicht ganz bei der Sache. Zum ersten Mal wurde mir klar, dass hinter der Zyste ja doch etwas anderes stecken könnte. Was dieses Andere sein könnte, konnte ich nicht benennen. Es war irgendetwas Krankes, Düsteres, etwas, das nicht in mein Leben passte.
Nachdem ich noch einen Kilometer schwimmen war, kam ich chlorentief rein zur Mammografie. Frau Dr. F. begrüßte mich mit „Hallo meine Liebe!“ – diese Begrüßung sollte schon bald zu einem geflügelten Wort zwischen ihr und mir werden – und schickte mich dann erstmal über den Klinikflur zur Mammografie.
Was mich da eigentlich erwartete, wusste ich gar nicht so recht. Würden meine Brüste gleich in irgendeiner Maschine platt gequetscht oder irgendwo angesaugt werden? Ich hatte noch nie einen ernsthaften Gedanken an diese Untersuchung verschwendet. Genau wie die Krebsvorsorge war sie etwas, das „man halt mal machen muss.“. Ich wusste zwar, dass meine Mutter da schon ein paar Mal gewesen war. Auch, dass die Schwiegermutter regelmäßig dorthin musste. Aber eigentlich war die Mammografie ein Wort, das keinen Inhalt und vor allem keinen Bezug mir selbst hatte.
Dann stand ich oben ohne in einem recht kalten Raum, meine Brüste wurden von einer etwas ruppigen Krankenschwester in die richtige Position gebracht und anschließend von Glasplatten zusammengedrückt wurden. Ein paar Quetschmomente später, die nicht ganz schmerzlos, aber für eine Mutter, die drei Kinder gestillt hatte, durchaus erträglich gewesen waren, saß ich schon wieder im Wartebereich.
Ein „Kommen Sie bitte, meine Liebe.“ führte mich in das kalte Zimmer von Frau Dr. F. – die das Corona-Lüften wirklich sehr ernstnahm – und erfuhr, dass die Mammografie dasselbe Bild wie schon der Ultraschall hervorgebracht hatte: eine Auffälligkeit in meiner rechten Brust.
Auf die Frage „Wollen wir die Biopsie gleich durchführen?“ fiel mir pragmatisch – oder wieder naiv – nur die Antwort „Ja, wenn ich schon mal hier bin. Die Kinder sind ja zum Glück beim Göttergatten versorgt“ ein.
Ein Schnitt mit Folgen
Dann hielt ich plötzlich zwei DIN A4-Seiten zur Aufklärung über einen „örtlichen Eingriff mit Betäubung“ in der Hand, beantwortete diverse Fragen zu Erkrankungen, Medikamenteneinahme und wurde über mögliche Risiken und Auswirkungen der Biospie informiert.
Plötzlich war ich nicht mehr pragmatisch, sondern irritiert: Was war hier eigentlich los? Nach einem Aufklärungsgespräch, in dem ich nur „Schnitt“ hörte, lag ich plötzlich auf einer Untersuchungsliege und eine Nadel wurde in meine rechte Brust eingeführt. Zwar witzelten der Arzt und die helfende Krankenschwester herum, aber ich fand das alles gar nicht lustig. Ich fror, weil natürlich auch hier, bis zu meinem Eintreten das Fenster sperrangelweit offen gestanden hatte. Ich hatte Schmerzen, auf die ich überhaupt nicht eingestellt gewesen war. Meine Stimmung war jetzt nicht mehr „pragmatisch“ oder „naiv“. Aber von „ernst“ oder gar „besorgt“ war ich noch immer meilenweit entfernt. Allerhöchstens „seltsam“ trifft es.
Frau Dr. F. klärte mich noch über das weitere Prozedere auf: „Rufen Sie Mitte nächster Woche mal bei uns an und erkundigen Sie sich nach dem Ergebnis.“. Dann verließ ich das Krankenhaus. Auf dem Weg zum Auto hatte ich plötzlich das Gefühl, einen kurzen Post von wegen „Ich hatte heute eine Mammografie und Biopsie“ in die WhatsApp-Gruppe zu schreiben, die ich mit meiner Mutter und meinen beiden Schwestern hatte. Die Drei meldeten sich auch alle binnen kurzer Zeit, drückten mich virtuell und wünschten mir, dass nichts Ernstes dabei herauskommen würde. Aber da in unserer Familie keine Auffälligkeiten bekannt seien, hätte ich ja sowieso nichts zu befürchten.
Ich machte auf der Heimfahrt noch Halt beim Bäcker und kaufte ein paar süße Teilchen. Während die Kinder davon klebrige Finger bekamen, erzählte ich vom Eingriff. In der Hoffnung, Mitleid zu erzielen, jammerte ich theatralisch vor mich hin. Denn zwischenzeitlich tat meine rechte Brust tatsächlich richtig weh. Aber meinem Stöhnen und dem gequälten Blick wurde wenig Beachtung geschenkt.
Nicht am Telefon
Ich weiß nicht, wann das Thema jemals wieder auf den Tisch gekommen wäre, wäre da nicht meine sehr gute Freundin K. gewesen, die mir am Mittwoch in der darauffolgenden Woche eine WhatsApp schickte: „Hast du schon ein Ergebnis?“ Sie selbst hatte vor ein paar Jahren wegen einer Zyste ebenfalls ein paar bange Tage verbracht.
Wieder reagierte ich ganz pragmatisch – oder naiv? – , griff zum Telefonhörer und rief in der Klinik an. Ich war leicht irritiert, überrascht und dann tatsächlich zum ersten Mal seit dem Erscheinen der Zyste auf dem Ultraschall in der Frauenarztpraxis besorgt, als die Sekretärin mich postwendend direkt zu Frau Dr. F. durchstellen ließ.
Deren Ton war herzlich und sie begann das Gepräch in gewohnter Manier mit „Meine Liebe.”. Der nächste Satz ließ mich allerdings aufhorchen „Sie wollte ich heute auf jeden Fall noch anrufen.“ Beim dann folgenden zuckte ich zusammen: „Können Sie gleich nochmal zu uns kommen, bitte?“ Es lag mir auf der Zunge zu antworten „Das kriege ich so schnell mit den Kindern nicht geregelt.“ Aber instinktiv wuste ich, dass es wichtig war und sagte: “Ja, klar.”
Autofahrt in die Gewissheit
Ich ging sofort ins Arbeitszimmer, wo mein Mann seiner Homeofficetätigkeit nachkam und erzählte ihm vom Anruf. Auch ihm war klar, dass ich gleich losmusste. „Die lässt dich nicht extra in die Klinik fahren, wenn der Befund gut ist.“ Er begleitete mich sogar zum Auto, ermahnte mich vorsichtig zu fahren. Außerdem gab er mir noch mit auf den Weg, dass ich der werten Frau Ärztin, wenn sie mir tatsächlich nur sagen wollte, dass alles in bester Ordnung sei, einen wenig freundlichen Gruß von ihm ausrichten solle, weil das ja sowas von gar nicht ginge!
Ich glaube, sowohl ihm als auch mir, war absolut klar, dass ein guter Befund gar nicht zur Debatte stand. Aber irgendwie tat es dennoch gut, es zu hören. Es gab mir und wahrscheinlich auch ihm für einen kurzen Moment das Gefühl einer Scheinsicherheit.
Und dann saß ich am Steuer! Während der 35 minütigen Fahrt ging mir so mancherlei durch den Kopf. Der Unfalltod meines Bruders. Die Herz-Rhythmus-Störungen, die der Göttergatte vor ein paar Jahren mal hatte. Natürlich auch Corona. Ich spürte eine Kälte, eine Bedrohung, konnte ihr aber keinen Namen geben.
Ankunft im Brustkrebs-Universum
Tja und dann taufte Frau Dr. Franz die Bedrohung: „Brustkrebs.“ Im Laufe der nächsten Stunde erzählte ich ihr völlig konfus so mancherlei aus meinem Leben.
Irgendwann sprach auch Frau Dr. F. wieder. Ich schnappte Worte wie „Operation“ und „Chemotherapie“ auf. Die klangen bedrohlich und nisteten sich direkt in meinem Gehirn ein. Stichworte wie „Krebs mit den besten Heilungschancen“, „Glück, dass der Knoten noch so klein ist“, „gute Chancen, dass Sie nur eine Bestrahlung benötigen“ hörte ich zwar auch, aber sie erhielten von meinem geistigen Speicherzentrumso keine Erlaubnis, sich dort einzunisten.
Mein Gehirn dekodierte sämtliche Informationen in nur drei Wörter: „Tod“, „Trauer“ und „Ende“.
Ich spürte, dass hier etwas Gewaltiges vor sich ging. Etwas, das mein Leben und das meines Mannes und meiner Kinder zerstören würde. Etwas, das ich nicht stoppen, nicht steuern konnte. Etwas, das schon im Gange war. Etwas, das nicht in meinen Lebensplan passte. Etwas, das alles grundlegend ändern würde. Etwas, das alles in ein kohlrabenschwarzes Licht tunkte. Ich spürte, wie der Boden unter mir weggezogen wurde.
Frau Dr. F. fragte, ob wir nun gemeinsam meinen Mann anrufen sollten oder ob ich ihn zum Gespräch in die Klinik holen wolle.
Ihn anrufen und dann per Lautsprecher mitteilen, was Sache ist? Womöglich noch im Beisein der Kinder? Doof! Ihn anrufen, nicht sagen, was los ist, aber darauf drängen, das er sofort in die Klinik kommt? Genauso doof. Ich entschied: “Nein.” Ich würde jetzt nach Hause fahren und übermorgen, Freitag, mit dem Göttergatten wieder herkommen.
Ich verließ das kalte Zimmer, den leeren Wartebereich und die Klinik. Nun stand ich draußen in der Dunkelheit im Nieselregen mit meinem kleinen Brustkrebs.