Annette fragt… Anna Farris
Annette fragt… Carsten Witte
Als ich zusammen mit einem anderen Krebsbetroffenen auf der Suche nach einer Selbsthilfegruppe für etwas jüngere Patientinnen und Patienten waren und diese Suche erfolglos blieb, riefen wir kurzerhand eine eigene ins Leben. Diese nannten wir „Jung und Krebs“. Ein toller Name, wie wir fanden.
Allerdings stellten wir kurz danach fest, dass dieser Name schon zu einem Selbsthilfe-Verein in Freiburg gehörte. Wir nahmen Kontakt mit dem Vorsitzenden auf und dann kam eins zum anderen. Mittlerweile kenne ich Carsten und die anderen persönlich. Markus, ich und unsere coole Truppe gehören als „Team Wutachtal“ zu „Jung und Krebs e.V.“ dazu.
Beim Vorsitzenden und Gründer dieses Vereins handelt es sich um Carsten Witte. Er hatte mit Anfang 20 Knochenkrebs, dreimals Lungenmetastasen. Als er keine Selbsthilfegruppe für jüngere Menschen fand, gründete er selbst eine.
Daraus entstand „Jung und Krebs e.V.“. Aus einer Selbsthilfegruppe wurden mittlerweile drei Gruppen in Freiburg, Rheinfelden und hier bei uns im Schwarzwald mit über 100 Mitgliedern. Neben Selbsthilfetreffen bietet dieser Verein Wunscherfüllungen und Gemeinschaftsaktionen.
Carsten arbeitet im Zentrum für Strahlentherapie Freiburg als Psychoonkologe und gibt dem Thema “Krebs” bei Vorträgen, Messen und Veranstaltungen ein Gesicht in der Öffentlichkeit und ist online wie offline weit über Freiburgs Stadtgrenzen hinaus bekannt.
Ich freue mich, dass Carsten sich meinem Fragenhagel gestellt hat und präsentiere euch unser Interview, das etwas von Mitarbeitergespräch hat.
Annette: Liebe Carsten, wo standest du in deinem Leben, als dich der Krebs überrollte?
Carsten: Ich war 24 und Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Ich war in einer festen Beziehung. Damals befand ich mich in einer Phase meines Lebens, in der ich noch gar nicht wusste, was ich eigentlich machen will. Ich hatte bei der Bundeswehr nur deshalb einen Vertrag über acht Jahre unterschrieben, weil ich sonst keinen Plan hatte.
Aber auf einmal hat mir das Leben dann knallhart gezeigt, in welche Richtung es geht. Nämlich in Richtung Krankenhaus.
Annette: Deine Krebs-Krankengeschichte lief nicht hundertprozentig glatt. Eine Weile nach deiner ersten Diagnose kam der Krebs zurück. Woher nahmst du damals die Kraft, um weiterzumachen? Was motivierte dich?
Carsten: Nein, eine spezielle äußere Motivation oder einen bestimmten Anreiz gab es nicht. Ich sah für mich keine anderen Möglichkeit als „Die Scheißmetastasen müssen raus und ich möchte wieder zurück in mein Leben.”. Denn es hat mir damals extrem viel Spaß gemacht zu leben.
Durch den Krebs hab ich erkannt, dass ich anderen Menschen gerne helfe. Ich hatte das Gefühl, dass das Leben in eine Richtung schlägt, wo der Carsten hingehört und ich dachte: „Jo, da geht’s jetzt weiter für mich.”
Annette: Ich hab einen interessanten Satz von dir gelesen: „Du entscheidest dein Leben in einem gewissen Maße immer noch selber.“ Ist das für Leute mit metastasiertem Krebs oder im palliativen Stadium oder in einem momentanen psychischen Loch kein Affront? Sind diese nicht einfach nur von ihren Ärztinnen und Ärzten oder Medikamenten abhängig?
Carsten: Ich bin der Meinung, dass jeder Mensch selbst entscheiden muss (oder darf): „Welche Dinge muss ich abgeben? Bei welchen Dingen kann ich anderen vertrauen? Welche Dinge hab ich selbst in der Hand?“
Über den Umgang mit meiner aktuellen Situation – vermeintlich geheilt oder einen Tag vor meinem Tod – entscheide ich aber immer noch selber. Das hat mit Stärke zu tun.
Und es erfordert eine Akzeptanz der aktuellen Situation. Wenn mir das gelingt, dann kann ich mich auf das konzentrieren, was mir bleibt und möglich ist.
Infolge meiner Erkrankung ist mein linker Arm verkürzt und ich muss akzeptieren, dass ich dass ich für immer eine eingeschränkte Funktionalität in meiner linken Körperhälfte haben werde und z.B. nicht mehr Volleyballspielen kann.
Aber was mache ich daraus? Ich kann Badminton spielen, ich kann bowlen, ich kann Fahrradfahren und joggen. Ich konzentriere mich darauf, was ich kann.
Annette: „In einer Selbsthilfegruppe sitzt man im Stuhlkreis, eine Kerze brennt, mindestens eine Person weint und eine andere hat einen hysterischen Anfall.“ Stimmen diese Vorurteile mit der Realität überein: Laufen die Selbsthilfetreffen bei „Jung und Krebs“ so ab? Erzähl doch mal…
Carsten: Ich sage mal so: „Teils, teils.” Es stimmt schon, dass eigentlich jedesmal mindestens eine Person weint oder einen hysterischen Anfall hat. Aber: Was spricht denn dagegen? Gerade diese Gruppentreffen sind doch dafür da, dass alles da sein darf. Wenn geweint wird, dann darf die Träne da sein, wenn ich wütend bin, dann darf ein Wutanfall sein.
Wenn das von der Gruppenleitung so kommuniziert und von der Gruppe so getragen wird, das alles da sein darf und dass keiner/ das persönlich nimmt, dann ist es doch der beste Rahmen, um einfach mal laut loszuschreien. Ganz klar.
Wir versuchen immer, bei unseren Treffen den Rahmen zu geben und den Raum zu öffnen für Belastungen und Bedürfnisse. Und wenn man sich diesen Dingen mal zwei Stunden öffnet und sie auf den Tisch legt, dann kann man sie danach wieder wegpacken, denn sie haben ja ihre Aufmerksamkeit bekommen. Dann spuken sie einem vielleicht nicht mehr so stark im Kopf herum. Dann hat man den Rest des Tages, den Rest des Monats, des Lebens wieder Ressourcen für die Dinge, die erfreulich(er) sind als die belastenden.
Eine schöne Idee übrigens mit der Kerze. Müssten wir bei unseren Gruppentreffen mal einführen.
Annette: Hihi: Könnt ihr Freiburger*innen gern vom Team Wutachtal übernehmen…
…
Hand aufs Herz: Was macht es mit dir, was macht es mit der Selbsthilfegruppe insgesamt, wenn ein Mitglied ein Rezidiv hat, auf der Palliativstation liegt oder stirbt?
Carsten: Es nimmt mich unterschiedlich mit, wenn Menschen einen Rückfall haben oder in der finalen Phase ihres Lebens sind. Denn ich muss da etwas unterscheiden.
So gibt es Menschen, die mir nährstehen und die ich als Freund*innen bezeichnen würde. Bei denen trifft mich diese Mitteilung natürlich mehr, weil mich mit dieser Person mehr verbindet. Dann bin ich auch auf einer anderen Ebene dabei.
Wenn es jemand ist, den ich “nur” von den Gruppentreffen kennen, aber mit denen ich ansonsten keine Berührungspunkte haben, dann versuche ich den Mitgliedern als Gruppenleiter Rückhalt zu geben, unterstütze mit fachlichen Informationen oder versuche, den anderen emotional weiterzuhelfen, die betroffener sind als ich.
Ich dachte ja, dass es irgendwann einfacher wird, wenn Menschen sterben. Aber das wird es nicht! Es ist gerade umgekehrt: Es wird intensiver. Wohl gerade aus dem Grund, dass ich weiß, dass es intensiver wird, trauriger wird, mich belastet.
Aber: Je mehr ich mir dessen bewusst bin, desto mehr kann ich das zulassen. Und das ist ok so.
Annette: Im vergangenen Sommer wurde bei einer Nachsorgeuntersuchung eine Metastase gefunden, die dann operativ entfernt wurde. Hattest du durch deine jahrelange Erfahrung in der Selbsthilfe die passenden Tools für dich zur Hand? Oder hatte auch ein Carsten Witte mit Ängsten und Sorgen zu kämpfen?
Carsten: Natürlich hat auch ein Carsten Witte Ängste und Sorgen! Die gehören nun mal dazu! Ich habe nicht nur durch die Erfahrungen in der Selbsthilfe, sondern primär auch durch die Lebenserfahrung – man wird ja immer älter – Ressourcen, wie ich damit umgehe.
Ich kann also meine Ängste und Sorgen zulassen, weil ich Tools habe und adäquat reagieren kann.
Annette: Du hast dich zum Psychoonkologen weitergebildet und betreust mittlerweile Patient*innen. Inwiefern kannst du dein Wissen auch für deine Arbeit bei und für „Jung und Krebs“ nutzen?
Carsten: Ich glaube, durch Supervision und meinen professionellen Blick auf diese Erkrankung kann ich vieles in die Gruppenleitung mit reinnehmen. Das hilft hoffentlich auch vielen bei Jung und Krebs in der Methodik. Und durch mein Vernetzen auf Social Media und im beruflichen Bereich kann ich immer wieder mal direkt Kontakt zu Expert*innen herstellen, um Antworten auf Fragen zu bekommen oder auch mal schnell eine Zweitmeinung einzuholen.
Annette: Neulich gabst du in einem Vortrag zwei recht konträre Tipps zum Umgang mit einer (Krebs-)diagnose. Zum einen sprachst du davon, dieser „mit Humor zu begegnen“ und zum anderen riefst du dazu auf, „die Wut zu begrüßen“. Was meinst du damit? Wie können unsere Emotionen zur Ressource werden?
Carsten: Naja, konträr finde ich das nicht. Einerseits kann man Situationen mit Humor begegnen und andererseits macht uns etwas wütend. Und dann darf bzw. muss die Wut raus.
Denn Emotionen möchten da sein. Und das dürfen sie auch.
Es gibt da so ein schönes Zitat: „Wenn sich etwas nicht ausdrückt, drückt es sich ein.” Kann man Kindern – oder eigentlich allen Menschen, egal wie alt, – wie Furze erklären. Furze sind wie Gefühle und Gefühle sind wie Furze. Die müssen raus. Wenn man sie verklemmt, dann machen sie Bauchschmerzen und könnten auch krank machen.
Und so ähnlich ist es auch bezüglich des Humors und der Wut. Das alles muss raus. Denn hinter allem steckt ja auch eine Energie oder sogar eine Botschaft. Nämlich, dass einem etwas wichtig ist.
Annette: Ich habe im Laufe meiner Erkrankung die Phrasen „hätte“, „müsste“, „könnte“ und „Warum hab ich nicht?“ aus meinem Vokabular gestrichen. Welches Fazit hast du aus deiner Erkrankung gezogen und möchtest du anderen gerne mit auf den Weg geben?
Carsten: Ich denke, es sind zwei Sachen.
- Ich darf Nein sagen. Das ist ganz klar.
- Ich muss mich nicht erklären. Ich muss nicht erklären, warum ich nein sage, warum ich etwas will oder nicht will. Es reicht zu sagen, es fühlt sich so an oder es fühlt sich so nicht richtig an. Ich brauche keine Erklärung für irgendetwas.
Annette: Lieber Carsten, ich danke dir sehr für deine Antworten und wünsche dir alles, alles Gute! Ich bin gespannt, was wir 2024 noch so gemeinsam für und mit Jung und Krebs e.V. auf die Beine stellen werden. Rock on!
Mehr über Carsten findet ihr hier:
Carsten auf Instagram
Website Jung-und-Krebs e.V. mit Links zu den Selbsthilfegruppen, Informationen zu den Wunscherfüllungen und Gemeinschaftsaktionen sowie Videos zur/über die Selbsthilfe
Artikel über Carsten im Kurvenkratzer-Magazin “Vom Offizier zum Psychoonkologen”
Interview mit Carsten und der Advigon-Versicherung “Aktiv gegen Krebs”
Artikel über Carsten in der Badischen Zeitung
Interview mit Carsten von daskwort “Die Anliegen von Krebspatienten brauchen mehr Aufmerksamkeit”
Carsten im Kurvenkratzer-Podcast “Let´s talk about Krebs, Baby”
Podcastfolge von Sarkome.de und Carsten “Humor ist auch `ne Ressource”
Carsten zu Gast bei Kendra Zwiefka in ihrem “Mutmacherpodcast”
Carsten spricht mit Julica Goldschmidt im “Baden FM-Podcast”
Hier geht’s zu den anderen schon veröffentlichten Interviews aus der Reihe “Annette fragt…”, unter anderem mit Markus Hotz, der so wie Carsten und ich auch für Jung und Krebs e.V. aktiv ist