Annette fragt… Anna Farris
Echtes Leben versus heile Welt
Das Leben mit einer Teenagerin, einem vorpubertierenden Wesen und einem Kindergartenkind hat viel von Diskussionen über Klamotten auf dem Boden, Gezeter wegen der schon wieder nicht ausgeräumten Spülmaschine, von unangebrachten Schimpfwörtern und Geschwisterstreit, von Klagen über viel zu wenig Handyzeit oder Beschwerden über „die anderen, die immer alles dürfen“. Untermalt oder besser übertönt wird all das dann oft noch von einem Trotzanfall, der absolut nichts von königlicher Zurückhaltung hat, die man bei einem Kind, das in meinen Texten das Pseudonym „Goldkind“ hat, vermuten könnte.
Mittendrin in diesem lauten, streitlustigen, wilden Streitmeckerohuwabohu stecke ich. Je nach Tagesform schaue und höre ich dem Treiben und Tosen mal mehr, mal weniger lang zu, bevor ich dann mit mahnenden, motzenden, lauten Worten einmische und irgendwann auch mit sehr lautem Gebrüll lospoltere.
„Müsst ihr immer streiten?“ „Könnt ihr nicht einfach mal mithelfen?“ „Warum muss ich euch immer alles hinterherräumen?“ „Bin ich eigentlich der Depp hier?“…. Wie oft ich diese Sätze doch sage und wie sehr ich sie eigentlich hasse.
Das Schimpfen einfach abschaffen?
An Tagen, an denen ein Streit mal wieder total aus dem Ruder gelaufen ist, eine Küchendienstdiskussion völlig ausartete oder ich sehr laut wurde und summasumarum eine absolute Motzkuh war, hüpft mir oft kleines Teufelchen in den Nacken und warnt mich: „Soll dein Meckern das letzte sein, was deine Kinder von dir in ihrer Erinnerung behalten?“ Angesichts meiner Brustkrebserkrankung tut es dies sehr laut und sehr eindringlich. Das führt zu einem schlechten Gewissen. Wäre es nicht eigentlich angebracht, jede Schimpftirade einfach hinunterzuschlucken und stattdessen fröhlich durch das Haus zu tanzen?
Ja, natürlich will ich das Gemotze, Bestreite und Gemeckere nicht! Ich will das rosarote Glück, will ganz viel pure Harmonie und den vollen Glücksrausch und das alles am liebsten im Dauermodus. Aber leider ist das im Leben einer Mutter, auch in dem einer Mutter, die Bekanntschaft mit dem Krebs gemacht hat, nicht realistisch, sondern absolute Instagramweltvision. Im echten Leben knallt, fetzt und schreit es laut, lauter und oftmals auch am lautesten. Die Kinder streiten, weil sich wieder mal eine oder einer ungerecht behandelt fühlt oder meckern, weil der Lieblingsjogurt nicht im Kühlschrank steht. Daran ändert auch eine Chemotherapie oder eine Antihormon-Tablette nichts. Und auch wenn mich diese unschönen Momente ärgern und ich weiß, dass es weitaus Wichtigeres gibt und ich das große Ganze übersehe, kann ich dann nicht aus meiner Haut und reagiere oder agiere. Und – mal ganz unter uns – das ist ja eigentlich auch nicht immer falsch, sondern nennt sich tatsächlich „Erziehung.“
Ich wünsche meinen Kindern mit den Worten von Sarah Connor „all das Glück dieser Welt“ und natürlich auch, dass „diese sich für [mich und uns alle] noch ganz lange dreht“. Aber ich kann ihnen keine Glückseligkeit garantieren. Denn ich weiß nicht, was der Krebs oder das Leben mit mir und uns vorhat. Ich kann sie nicht vor allem bewahren und auch nicht immer und überall bei ihnen sein. Auch wenn ich keinesfalls Kinder möchte, die perfekt funktionieren, kann ich nicht dauerhaft aufs Maßregeln und Erklären verzichten und das Erziehen sein lassen. Immerhin muss ich sie zu lebenstüchtigen Menschen werden lassen und das klappt nicht so gut, wenn ständiges Heiapoppeia herrscht.
Was ich aber kann, ist meinen drei Goldschätzen eine prallgefüllte Erinnerungsschatzkiste mit gemeinsamen Glücksmomenten packen. Dahinein stecke ich kleinere Momente wie Vorlesekuschelstunden und Disneyfilmabende, größere wie Shoppingtouren und Radtouren, an deren Ende ein großes Eis wartet. Ich stecke aber auch etwas Langweiliges wie einen Museumsbesuch (der vielleicht doch ein Aha-Erlebnis bietet?) oder eine Wanderung, bei der eine Ladung süßheißer Kaiserschmarrn zur Stärkung dient. Obendrauf packe ich Highlightmomente wie Städtereisen, Strandurlaube oder auch so etwas wie einen Konzertabend, den ich im letzten Sommer mit dem Teeniemädchen erlebte.
Das erste Konzert fürs Teeniemädchen und ein Aha-Moment für mich
Nachdem wir 2019 Karten für ein Openairkonzert im wunderschönen Schlosshofambiente in Salem gekauft hatte, lagen diese unberührt im Schrank und zogen sogar mit uns um. Es kam Corona, es kam mein Krebs, aber es kam keine Sarah Connor. Nun war es aber endlich soweit und das Teeniemädchen und ich machten uns im Juli 2022 auf den Weg zu ihrem ersten Konzert. Wir erlebten einen obermegahammermäßiggenialmagischen Abend. Den werden wir für immer ab jetzt in uns tragen und kein Krebs, kein Unfall, kein trauriger Tag kann ihn uns nehmen. Im Gegenteil: Die Gedanken daran können einen solchen Tag erhellen.
In meinem Mamaherz brodelte es an diesem Abend. Ich musste mein Teenimädchen immer und immer wieder knuddeln und verdrückte mehr als ein, zwei, drei Tränen. Die Texte an sich, die Stimme von Sarah Connor sowieso, meine eigenen Gedanken und Emotionen, als ich tanzte und sah, dass irgendwann auch mein großes Mädchen sich bewegte, lachte und richtig befreit war, obwohl doch derzeit alles und jeder (und die Mutter sowieso) infrage gestellt wird. Wir sangen lauthals mit, klatschten und lachten. Ich aß meine ersten Pommes seit Jahren (eine echte Mutprobe für mich – @die_mutloewin) und es war einfach nur schön, schön, schön. Das schönste Kompliment an diesem Abend war der Satz „Mama, du warst mir heute überhaupt nicht peinlich.“ und sie erlaubte mir sogar, auf der Rückfahrt im Auto zur Sarah-Connor-Playliste mitzusingen und stimmte sogar mit ein.
Tschakka! Alles richtig gemacht. Nun werde ich aber ganz schnell die Erinnerungskiste schließen und nicht mehr darauf rumtreten. Denn schon einen Tag später war ich nicht mehr ganz so cool, als ich Madame ans Zimmeraufräumen erinnerte….
Vor der altehrwürdigen Kulisse des Schlosses in Salem klickte es mehr denn je in meinem Gehirn und ich gebe, mit Sarah Connors leicht veränderten Worten aus ihrem Song “Bedingungslos” in aller Öffentlichkeit ein Versprechen an meine Kinder ab.
Auch wenn es vielleicht gleich schon wieder knallt und ich meine Goldschätze (und auch den Göttergatten) nerve und sie mich ebenso: Ich wünsche mir von Herzen mit ihnen alt zu werden und irgendwann einmal runzelig, tatterig und vergesslich zwischen meinen Enkelkindern sitzen zu können. Solange es mir vergönnt ist, “werde ich für sie da sein, immer für sie da sein. Ich halte sie fest, lasse los, gebe ihnen Trost. Ich bin die, die bei ihnen bleibt und zwar bedingungslos.” (Danke, leibe Sarah Connor für diene wundervollen Textzeilen, die genauso genau richtig sind!)
Ein Reminder an und für das Leben
Alle drei Monate bin ich beim Onkologen und der Gynäkologin, regelmäßig bei der Hausärztin und täglich gibt es Tamoxifen. Neben konkreten Fragen an die Ärzt*innen, treiben mich dabei vor allem auch unausgesprochene Fragen um: Was ist, wenn wieder etwas Auffälliges entdeckt wird wie im letzten Herbst? Was ist, wenn es sich gar erneut um eine Krebsdiagnose handelt?
Mich treibt nicht um, dass ein Rezidiv oder Metastasen entdeckt werden könnten. Nicht, dass ich nochmal eine Chemo machen müsste. Nicht, dass es erneut Schmerzen, Spritzen und Medikamente geben würde. Über all das bin ich mir im Klaren. Über all das weiß ich Bescheid.
Mich treibt um, dass ich den Göttergatten erneut in die Verantwortung des „starken Papas und Versorgers“ drängen müsste. Mich treibt um, dass ich dem Mittelstürmer und dem Teeniemächen wegen der Glatze peinlich sein könnte. Mich treibt um, dass das Goldkind wieder Krankenhausbilder malen würde. Mich treibt um, dass ich sie zum Witwer und zu „Kindern ohne Mama“ machen könnte.
Da ist nun mal dieses Krebsrisiko in mir und ich kann meiner Herzensgang nicht versichern, dass ich ewig gesund werde. Damit sie mich und meine Liebe dennoch immer finden können, legte ich vor Kurzem einen handfesten Beipackzettel in die geistige Erinnerungsschatzkiste meiner drei Goldschätze.
Ich schenkte jedem von ihnen ein Armband mit der Aufschrift „Glückskind“ (siehe das Titelbild dieses Textes). Eine Erinnerung an die Mama. Ein Liebesbeweis von der Mama. Ein Hinweis für mich, immer und immer wieder für Glücksmomente zu sorgen, in denen es Konfetti regnet und wir eine gute Zeit haben.
In diesem Sinne höre ich jetzt auf zu schreiben und werde mich dem echten Leben widmen. Habt ihr auch Lust? Dann macht doch heute zusammen einen Ausflug, veranstaltet ein großes Familienessen oder spielt einfach eine Runde Monopoly!
Lasst uns gemeinsame Erinnerungen mit unseren Liebsten schaffen. Denn vielleicht erleben wir nicht immer die heile Welt, aber es ist trotzdem schön.
Und deshalb werde ich immer und immer wieder nach einem Knall-Moment miteinem motzenden Teeniemädchden, tobendem Mittelstürmer oder rotzendem Goldkind den Fokus auf die Gegenwart richten und diese mit Konfettimomenten wie dem Konzertbesuch neulich gut gestalten. Ich mache für mich und meine Herzensgang – und macht ihr für euch und eure Liebsten – so lang es geht das Beste draus.
Das alles verhindert keinen schlechten Befund. Aber es sorgt für meinen und unser aller Seelenfrieden. Den Rest muss ich wohl im Vertrauen an das Gute direkt ans Universum abgeben.
Und wenn dann (wie im Song “Das Leben ist schön“) doch irgendwann „der Tag gekommen ist und ich meine Augen schließe“, dann hoffe ich, dass sie diese bedingungslose Liebe spüren können, wenn sie an unsere gemeinsamen Erlebnisse denken. Sie sollen mich „da suchen, wo Liebe ist.“