Eine Standortbestimmung: Wo stehe ich und wer bin ich?
Da stehe ich nun, knapp zwei Jahre nach der letzten Chemotherapie. Arbeite wieder. Habe Haare. Der Krebs ist durch meine Krebsaktivitäten auf dem Blog, mit meinen Interviews und den Buchrezensionen schon noch da. Aber er bestimmt nicht mehr mein ganzes Leben. Oder doch? In diesem Blogtext versuche ich, in meinem leicht verwirrten Gehirn etwas Ordnung zu schaffen und herauszufinden, auf welcher Position ich mich nun eigentlich befinde: im LEBEN NACH oder ZWISCHEN oder HINTER dem Krebs? Dabei lasse ich mich wieder mal von kleinen Wörtchen in unserer Sprache inspirieren. Außerdem kommt eine sehr gute langjährige Freundin zu Wort, eine Biene spielt eine Haupt- und ein kleiner Teufel zum Glück nur eine Nebenrolle. Nicht zuletzt warten diesmal sogar drei Songs darauf, meine Textzeilen zu untermalen.
Hast du Lust, jetzt mit mir MITTENREIN zu fliegen in meine Gedanken? Dann nichts wie REIN.
Wo befinde ich mich eigentlich?
Mein LEBEN MIT DEM KREBS ist vorbei. Chemotherapie und Bestrahlung sind abgehakt. Die Antikörper sind durchgelaufen. Der Port ist weg. Ich habe die komplette Akuttherapie mit einem Happy-End abgeschlossen und stehe krebsfrei in meinem LEBEN NACH KREBS.
Das nimmt trotz Antihormontherapie an Fahrt auf. (In einem Blogtext habe ich mich mal damit beschäftigt, wie es mir mit den Anschlusstherapien so geht.)
Mein Kalender wird voller. Das Handy erinnert mich täglich mehrfach mit einem Piepser an einen Termin. Das verwirrt mich… Ich frage mich: Wo stehe ich in meinem DURCH DEN KREBS veränderten LEBEN? Noch etwas tiefsinniger komme ich darüber zur Frage: Wer bin ich nun?
Einerseits ist da noch viel LEBEN MIT KREBS. Ich blogge, habe mein Interviewprojekt „Annette fragt… und auch meine Krebs-Bestsellerliste wächst. Und – ich spoilere! – ein Ende ist noch lange nicht in Sicht. Denn es gibt einfach zu viele coole Leute und zu viele gute Bücher da draußen, die ich dir, liebe Leserin und lieber Leser, unbedingt noch vorstellen möchte. Außerdem bin ich in der Selbsthilfe tätig und freue mich, für Jung-und-Krebs Team Wutachtal aktiv sein zu dürfen.
Andererseits knüpfe ich aber beruflich mehr und mehr ans LEBEN VOR DEM KREBS an.
Ich tauche wieder tief ins Leben als Grundschullehrerin ein. Ich habe meine Stundenzahl nochmal etwas erhöht. Meine alten Ordner sind weggepackt. Denn ich habe Lust auf neue Materialien und verbringe Stunden im Internet und am Computer. Drucke aus, schreibe, klebe und schnipple. Die Unterrichtsvorbereitung läuft auf Hochtouren. Und sie macht Spaß!
Zudem fließt aus meiner Feder fließt wieder pädagogische Tinte. Zwei neue Ratgeber für Lehrkräfte erscheinen bis zum Sommer. Einen schreibe ich aktuell und in der zweiten Jahreshälfte hab ich schon was vor…. Spoilern muss hier schon wieder sein sein, verzeiht mir, hihi.
Ja, gerade tut sich in meinem LEBEN OHNE und im LEBEN MIT KREBS ganz viel. Das ist spannend. Das ist schön. Das ist bereichernd. Ich bin dankbar, dass ich es so viele Dinge gibt, die ich gerne mache, die ich gut mache und dass es immer wieder noch Dinge gibt, die dazukommen und die mir ebenfalls gefallen und Spaß machen.
Dennoch poppt immer wieder die Frage auf: Wohin wird mein LEBEN ZWISCHEN DEM KREBS UND DANACH mich führen?
Ich überlege hin. Ich überlege her. Und plötzlich ertönt da ein Song von Udo Lindenberg in meinem Kopf. Ich fühle mich wie er „auf einem heißen Ritt“ MITTEN in einem „Hurricane“ aus wirren Gedanken. Udo näselt vor sich hin und scheint tatsächlich von mir zu singen (Naja, wahrscheinlich nicht in echt…). Und irgendwie trifft er mit seinem Text voll ins Schwarze…!):
„[Du] fragst dich, wohin?
Dann springst du von außen nach innen.
Und dann willkommen MITTENDRIN.”
Und plötzlich wird mir klar: Ich stecke MITTENDRIN IM LEBEN. An manchen Tagen eben MIT und an anderen OHNE KREBS. Aber auf jeden Fall mache ich es genauso wie Udo es singt: „[Ich] starte wieder durch, das war genug Entbehrung“.
Selbsterkenntnis auf einer guten Position
Ihr Lieben, stimmt bitte mit ein ins Udo-Annette-Duett: „Ohh, oh-oh-oh-oh…..!“ Denn hey, wie wundervoll ist bitteschön diese Position da MITTENDRIN? Zeigt sie doch, dass ich wieder Vertrauen ins Leben habe und raus bin aus den „heißesten Flammen“. So dachte ich lange Zeit allerhöchstens an übermorgen, wollte ich vor zwei Jahren aus Beklemmung noch keine Neujahrswünsche aussprechen, versagte ich mir, Treffen in den Kalender einzutragen, die erst im nächsten Monat stattfinden würden. Und heute, Mitte März, ist schon unsere Urlaubsplanung für das ganze Jahr abgeschlossen (es wird großstädtisch, bergig und seelufthaltig), gab ich das OK für ein Buch mit Veröffentlichung in 2024. Ich hab´s kapiert: „[S]elbst die dunkelste Stunde hat nur sechzig Minuten“ und diese Stunde ist für mich – mit etwas Verlängerung – jetzt um. Jippieh!
Ganz plötzlich bin ich nicht mehr verwirrt, bin ich nicht mehr fahrig, bin ich ganz ruhig. Denn da ist die magische Erkenntnis des Tages: Ich bin bereit, meinen Kalender mit Terminen und damit das LEBEN mit LEBEN zu füllen. Ob als Krebsaktivistin, Autorin oder Grundschullehrerin ist mir doch egal. Solange es mir guttut und ich es kann, mache ich genauso weiter. Ich wage mich tatsächlich an und in die Zukunft. Krebsig, unkrebsig, pädagogisch, unpädagogisch, mit und ohne family. Ich LEBE und zwar MITTENDRIN. Punkt.
Teuflischer Besuch macht sich breit
Während ich meine Termine checkte und mich ins Leben schmiss, nahm auf meiner rechten Schulter ein kleiner Teufel Platz. Den Kerl kenne ich schon. Der kommt immer wieder vorbei. Dann flüstert er mir ins Ohr: „Hah, du packst dir den Kalender so voll, weil du nicht weißt, wann der Krebsmist wiederkommt. Desshalb möchtest du noch möglichst viel erleben .“ An anderen Tagen flüstert er nicht, sondern poltert ziemlich laut: „Mach hinne, du hast nicht mehr viel Zeit.
Und plötzlich bin ich wieder verwirrter. Fühle ich mich nicht mehr MITTENDRIN im LEBEN, sondern an den Rand gedrängt. Ist da was dran? Mache ich nur deshalb so viel, weil es schon morgen vorbei sein könnte? Hm….
Ich erzählte dem Göttergatten vom teuflischen Besuch. Tauschte mich mit einer langjährigen Freundin aus, die mich schon seit dem Studium kennt (Mensch, was waren das für schöne Zeiten da unten im badischen Freiburg, liebe S.) und mittlerweile die Patentante vom Mittelstürmer ist.
Sie meinte ganz lapidar „Du warst doch schon immer so!“ Und irgendwas klingelt da bei mir. Und der Göttergatte bestätigte das nach über zwanzigjähriger Partnerschaft. Erneut klingelt es. Ja, wenn ich genauer hinhöre und -schaue, dann erkenne ich es selbst: Ich war schon in meinem LEBEN VOR KREBS emsig. Ich bin im LEBEN NACH KREBS wuselig. Ich lasse mich wie ein Bienchen vom Alltagswind, vom Berufssturm oder der Krebsaktionsbrise herumpusten.
Wenn ich in der Zeitschleife nach hinten fliege, dann sehe ich eine junge Biene, die von von Wabe zu Wabe fliegt. Ich lese seit jeher mehrere Bücher gleichzeitig und war als Grundschulkind dafür bekannt, die Stadtbücherei regalweise „leerzulesen“. Ich hatte schon immer zig Hobbies. Noch bevor es normal war, im Internet nach Unterrichtsmaterial zu suchen oder sich auf Instagram mit anderen Lehrkräften auszutauschen, habe ich selbst erstellte Arbeitsblätter auf eine der ersten Online-Datenbanken hochgeladen, die es anno dazumal gab. Und schon von jeher öffnete ich ein neues Worddokument, kaum hatte ich ein Manuskript abgebeben. Ach ja, ich habe in einem Jahr mal mehr als vier Bücher veröffentlicht! So was kans geben, wenn ich im gelb-schwarzen Bienendress und im vollen Schreibflow bin. Und ja: noch während ich Punkte auf meiner To-Do-Liste abarbeite, füge ich dieser neue hinzu. Sie wird also nie vollständig erledigt sein.
Was soll ich sagen: Wie eine emsige Biene oder deren Verwandte, die fleißige Ameise, hatte und habe ich immer was zu tun – oder will immer etwas zu haben – und werde es wohl – solange das Schicksal mit wohlgesonnen ist – noch lange haben. Der mich begleitende Flügelschlag war und ist für mich herrlich unangestrengt, weil ich alles so so gerne mache.
An dieser Stelle halte ich kurz inne, werde achtsam und demütig. Denn mir ist klar, dass nach einer Krebsdiagnose nicht jede/r Betroffene sich in diesem glücklichen Umstand befindet, weiterhin das arbeiten und bewerkstelligen zu können, was sie/er im LEBEN VOR KREBS getan hat. Da müssen ganz viele Abstriche machen, weil sie von Fatigue betroffen sind, weil sie sich mit Langzeitwirkungen der Chemotherapie herumärgern, weil die Konzentrationsfähigkeit nicht mehr dieselbe ist oder auch einfach, weil sie weiterhin regelmäßig ärztliche Betreuung benötigen oder sich gar im palliativen Stadium befinden. An all diese Personen denke ich! All diese Personen möchte ich mit meinem Text nicht vor den Kopf stoßen, weil ich von einem „locker-flockigen“ LEBEN OHNE KREBS berichte.
Der kleine Teufel auf meiner Schulter lässt sich von mir noch immer nicht abschütteln. Er mosert halblaut vor sich hin: „Geld, Geld, die will doch nur ein volles Bankkonto und fliegt deshalb von einer Aufgabe zur nächsten.” Dieses Argument kann ich sofort weglachen (Hm, können Bienen überhaupt lachen? Ich jedenfalls schon!). Da habe ich als Krebsaktivistin sowieso den falschen Nebenjob gewählt, denn der bringt nullkommanull Zuwachs auf dem Konto. Aber er erhöht meinen Seelenfrieden um so einiges und ist es definitiv wert, gemacht zu werden.
Nein, alles, was ich mache, mache ich gerne. Ich bin von INNEN heraus motiviert („intrinisch“ nennt sich das im Fachjargon). Wenn ich schreibe, wenn ich sportle, wenn ich unterrichte, wenn ich für meine Herzensgang werkle. Mir macht das alles einfach Spaß. Mein Tag könnte mehr als 24 Stunden haben und ich würde noch immer irgendeine Sache machen. Und auch wenn ein Bienentanz mal in einer „harte[n] Ladung” endet so wie in Udos zu Beginn erwähntem Song, dann „bleib [ich] einfach nicht stehen, (…) hör auf kein Kommando [und vertrau darauf, dass] es schon irgendwie gehen wird.” Und in den meisten Fällen war genau das der Fall. Nach kurzer Zeit ließ ich mir wieder „frischen Wind um die Nase wehen” und fliege wieder auf Kurs.
Liebe Leserin und lieber Leser, ich weiß, dass es ein Geschenk ist, in meinem LEBEN NACH KREBS so viel Verschiedenes tun zu dürfen und so viel Verschiedenes tun zu können. Was mir Freude bereitet. Wie meinte meine gute Freundin so nett? „Ich bin total froh darüber, dass dich der Krebs nicht ausbremsen konnte.“ Ja, liebe M., das ist wundervoll, das ist genial. Deiner Dankbarkeit schließe ich mich mit gefalteten Händen und einer tiefen Verbeugung an.
Und dann – Zufall oder Absicht – stoße ich, während ich mich wieder aufrichte, den kleinen roten Teufelskerl von meiner Schulter. Denn was er mir einzureden versuchte, stimmt nicht! Mein Leben brummt nicht deshalb so bienenhaft laut, weil ich es nach meinem LEBEN MIT KREBS bewusst füllen oder gar über-füllen möchte oder weil ich im AUSSEN gut ankommen möchte. Nein, nein und nochmals nein! Ich bin schlicht und ergreifend einfach zufrieden so wie es ist MITTENDRIN in meinem LEBEN.
Ich summe zusammen mit Wincent Weiss in seinem Song „Mittendrin“ fröhlich vor mich hin:
„Wenn es um um [mich] wieder leuchtet und ich [mein Leben] wieder erkenn´,
dann bin ich MITTENDRIN, wieder MITTENDRIN, yeah eh!“
Und indem ich in Dauerschleife summe und summe, lüftet sich der teuflisch-rote Farbschleier um mich herum, wird schwarz-gelb und schlussendlich dann zu einem strahlenden Leuchten. Welch Glück: Ich bin raus aus der beunruhigenden dicken Luft und lasse die teuflischen Spielchen und Frotzeleien hinter mir. Und dann lasse ich mich ganz tief hineinfallen in die malerischen Worte meiner lieben Freundin: „Ich bin fest der Meinung, dass der kleine Teufel von der Biene gestochen wird und – puff! – zerplatzt.“ (Danke liebe S. für dieses wundervolle Bild!). In diesem Sinne werde ich die Holl´sche Biene weiterhin mit Tagen voller LEBEN nähren, auf dass sie taffer und taffer werde und sich dem roten Kerl immer mutiger entgegenstellen kann.
Falls doch mal „alle Stricke reißen“ – wie auch Herr Weiss es singt, dann „halte ich mich an [mir…] fest“. Dann schaue ich mir an, ob ich meine Position im LEBEN anpassen muss. Dann rückt der Blog vielleicht doch weiter weg von der MITTE, weil der pädagogishe Autorinnenteil in mir Überhand gewinnt oder die Grundschulliebe wird übergroß und braucht rechts und links der MITTE noch Raum, so dass ich eine Zeitlang nur in einer Richtung fliege. Alles möglich, alles denkbar, alles gut.
Wie schrieb ich schon in einem anderen Blogtext? Nichts müssen, aber alles dürfen. Das ist purer LEBENsluxus.
Sideinfo: In genau diesem Blogtext hab ich mich schon mal mit meiner „fleißigen-Insekten-Mentalität“ auseinandergesetzt. Wenn ihr noch Zeit habt, dann lest doch nach der Lektüre dieses Textes direkt dort weiter. Vielleicht werdet ihr erstaunt sein, wenn ihr erfahrt, dass ich mittlerweile tatsächlich mal einen Kaffee trinke und die Tasse mit beiden Händen festhalte, weil ich dann nicht in Versuchung gerate, noch etwas Zweites zeitgleich zu tun. (Ist tatsächlich ein Moment, um ganz schnell einen kurzen Break im Tag zu haben. Das wird hier in etwas ausgedehnter Form sogar als Mini-Achtsamkeitsübung im Alltag vorgeschlagen!)
Ganz zum Schluss bin ich mittendrin
Nun habe ich genug über mein LEBEN MIT und OHNE und VOR und NACH und ZWISCHEN und MITTENDRIN philosophiert. Jetzt will ich hinaus und mich in einen Tag voller LEBEN stürzen. Und dazu muss ich doch tatsächlich Zeilen aus dem Song „Mittendrin“ von PUR trällern (Hätte nie gedacht, mal einen Song von dieser Band zu zitieren, aber, aber… LEBEN und LEBEN lassen … und die Songs nehmen wie sie kommen…. Und den Soundtrack meiner Krebsreise weiter und weiter füllen). Aber sie treffen den Nagel auf den Kopf, bringen die Bienenflügel in die flugbereite Position, machen die LEBENdigkeit des LEBENs in all seiner Fülle bewusst.
Hartmut Engler macht mir klar, dass ich doch eigentlich schon „MITTENREIN geboren“ wurde ins LEBEN. Und obwohl [mir]keiner recht erklärt [hat], wie dieses LEBEN geht“, war ich ganz lange MITTENDRIN. Dann stieß mich das Krebsgetier aus der Flugbahn und brachte mich ins Straucheln. Aber „[ich stand] wieder auf, weil dieser Weg weitergeht“. Nun fliege ich wieder optimal MITTIG.
Ich wünsche dir, liebe Leserin und lieber Leser, dass es du auf das Brummen in dir hörst und das LEBEN führst, das dir gefällt in all seiner Fülle mit guten, schlechten, hellen, dunklen, aber allzeit LEBENdigen Tagen. Ich wünsche dir, dass heute ganz viel LEBEN in deinem Tag ist, war und sein wird. Bee yourself!