Erleichterung vs. Belastung
Alexander Greiner: Als ich dem Tod in die Eier trat
Ich empfehle das Buch für alle,
die mit ihrer Krebs-Diagnose ins Grübeln über ihr Privat- und Berufsleben gekommen sind. Es macht Mut, zu reflektieren und im Zweifelsfall neue Wege einzuschlagen. Teetrinkerinnen und -trinker werden sich vielleicht erst ab der zweiten Hälfte des Buches mit dem Text anfreunden können, denn zunächst stehen einige Kaffeehausbesuche und Gedanken über den perfekten Kaffee an.
Kurz und knapp: Worum geht´s?
Alex Greiner, wie ich Blogger bei den Kurvenkratzern, mittlerweile Autor und Krebsaktivist, bekam mit 35 Jahren die Diagnose Hodenkrebs. Er hatte sich gerade von seinem Job als Unternehmensberater in der IT-Branche verabschiedet und war Barista in einer Kaffeebar geworden. Er geht die Sache pragmatisch an, lässt sich operieren und geht ruckzuck wieder zurück in sein altes Leben. Nach zwei Jahren dann der Schock: Tumor im rechten Oberarmknochen. Er muss sich einer Chemotherapie unterziehen. Von diesem Zeitpunkt an beginnt er sein altes Leben zu hinterfragen. Er macht sich auf die Suche nach seinem leiblichen Vater, macht Tabularasa im Freundekreis, plant einen Berufswechsel in die Selbständigkeit, probiert verschiedene komplementärmedizinische Wege aus und stellt seine Ernährung um.
Zusatz-Gimmick:
Jedem Kapitel ist ein Satz, der mit „Möge…” beginnt, vorangestellt. In jedem Kapitel kommt ein weiterer Satz im selben Baumuster hinzu, so dass es schlussendlich fünf Sätze sind. Ich lehne mich mit der Hypothese hinaus, dass es sich dabei um fünf Affirmationen handelt, die dem Autor bei seinem Heilungspr0zess geholfen haben. Ein wunderbarer Gedanke, der zur Nachahmung anregt!
Mein Tipp: Such dir täglich eine davon aus, murmle sie mantramäßig vor dich hin oder schreibe sie auf kleine Zettelchen, die du gut sichtbar in deiner Wohnung verteilst. So unterstützet du deinen Heilungsprozess oder deinen gesunden Lebensweg.
Ich mag das Buch, weil…
Alex sich so sympathisch über seine Hang zur Hypochondrie lustig macht. Diese hat einen äußerst nutzwertigen Nebeneffekt, denn durch seine häufigen Arztbesuche, selbständigen Recherchen und vielen Gespräche mit Expertinnen und Epxerten hat er ein fundiertes Fachwissen rund um eine Krebserkrankung inklusive Krankenkassen- und Versicherungswissen und liefert anderen Betroffenen in seinem Buch sehr, sehr viele, medizinische Fakten und nutzwertige Tipps liefern.
Bei der Beschreibung der Suche nach seinem leiblichen Vater sowie der Wiederannäherung und Versöhnung mit seinem Stiefvater gibt Alex viel Persönliches preis und zeigt sich verletzlich. Mein vollster Respekt!
Außerdem finde ich es grandios, mit welchem Tiefgang, teilweise fast schon philosophisch, wie Alex über das Leben und den Tod im Allgemeinen, seines und seinen im Speziellen nachdenkt.
Ich mag die dialektale Färbung des Textes (herrlich die „Eierschwammerlpizza mit fettiger Oberssauce“ oder auch das „Spital“) und den „Wiener Schmäh“, der immer wieder zwischen den Zeilen oder auch ganz direkt auftritt -herrlich humorig, aber nie plump. Ich wurde beim Lesen getriggert und hatte immer wieder den Tatort-Kommissar Moritz Eisner und seine Kollegin Bibi aus Wien vor Augen und in den Ohren ein paar Lieder der österreichischen Band „Wanda“.
Nicht zuletzt gefällt mir das Buch so gut, weil ich jeden einzelnen Satz, den Alex in punkto „Krebs ist ein Kampf“ von sich gibt, nur ausdrücklich unterstreichen kann: Es galt, standhaft statt stark zu sein.
LESEPERLEN aus „Als ich dem Tod in die Eier trat”
Herrlich ehrlich!
Der zweite [Chemo]zyklus begann (…). Ich brauchte Nervennahrung, aß eine Handvoll Butterkekse […] und futterte wenig später eine Packung Manner-Schnitten. Jedes Mal, wenn ich sündigte, fühlte ich mich schlecht (…), bemühte mich aber im selben Moment um Gelassenheit.
Genau so ist es…
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, wird gesagt. Wer diesen Spruch erfunden hat, kann nicht alle Tassen im Schrank haben. (…) Ich nahm diese Redewendung ab sofort nicht mehr beim Wort, denn ich bin für Aufrichtigkeit. Ich bin für Ehrlichkeit. Ich bin für Klarheit. Mit Schweigen ist das alles nicht erreichbar. Mir war die Krebserkrankung nicht mehr peinlich. Ich wollte nichts mehr verstecken, nahm kein Blatt mehr vor den Mund. Ich entschied unmittelbar nach der Diagnose (…), so oft es ging und ohne Rücksicht auf Verluste uneingeschränkt ehrlich und frei zu kommunizieren, was mir in den Sinn kam. (…) Für mein Seelenheil war es notwendig, mit der Krebserkrankung offen umzugehen.
Sprachliche Fundstücke
Leben auf Autopilot = die ersten beiden Wochen nach der Diagnose
Hirnfasching = Kopfkino
die Tratschtanten = Tante, der die Mutter des Autors nichts von seiner Diagnose erzählen soll (die sich aber direkt nach seiner OP nach seinem Befinden erkundigt)
zirkusähnliches Halligalli und heiteres Ducheinandergewusel = Beschreibung des Urlaubs, den er nach drei Chemotherapiezyklen mit seinen Eltern und seiner Schwester und deren Kindern unternimmt
Achtsamkeitsanker = der Autor hat eine Kastanie in seiner Jackentasche, den er drückt und bewusst fühlt, wenn schlechte Gedanken kommen oder er rastlos, unruhig ist
richtige Fleischeslust = obwohl er sich bisher eher vegetarisch ernährt hatte, verspürt Alex nach der ersten Intensivchemo große Lust auf Fleisch
Überlebensstarrsinn der Krebszellen = Metastasenbildung
Frischluft statt abgestandenem Fitnesstudio-Odeur = Alex´ Reaktion auf die Empfehlung seines Arztes hin, vorsichtshalber auf dem Heimtrainer oder Ergometer statt auf dem Fahrrad oder beim Wandern seine Kondition nach der langen Bewegungspause zu steigern
Humor statt Tumor
„Es gibt Schlimmeres als eine Glatze“, sagte Katharina, als ich meinen Panamahut abnahm und den Kopf mit Sonnenschutz eincremte.“ „Ja, zum Beispiel Krebs“, ergänzte ich (…).
Gänsehautmoment
„Ich habe so viele Fehler begangen. Das tut mir alles shr leid, Alexander“, sagte[mein Stiefvater]. (…) „Das hast du schon öfter gesagt“, sagte ich. (…) „Was soll ich denn tun?“, fragte [er]. Seie Stimme zitterte. „Du kannst es nicht ungeschehen machen“, sagte ich. (…) „Du kannst nur versuchen, die Fehler zu akzeptieren und sie in der Zukunft zu vermeiden.“ Er erhob sich und kam um den Tisch auf mich zu. In seinen Augen sammelten sich Tränen, Er reichte mir die Hand. Ganz deutlich spüre ich, das er von Herzen bereute. Ich blickte ihn an, stand auf und drückte meine Brust fest an seine. „Danke“, sagte ich. „Bitte entschuldige“, sagte er und strich mit der Hand über meinen Rücken.
Positive Brillengläser
Mit der Annahme des Status quo lernte ich, in den Fluss des Lebens einzusteigen, statt gegen ihn zu schwimmen. Mit dem Strom zu schwimmen, verbraucht weniger Energie und weiter stromabwärts eröffnet sich eine andere Perspektive auf das Leben. Dinge, die vorher wichtig erschienen, sind es dann nicht mehr. Dinge, die nicht im Fokus waren, sind dann plötzlich relevant. In diesem Fluss habe ich innere Zufriedenheit entwickelt. Ich traue ich zu sagen, dass ich Frieden gefunden habe – oder auf direktem Weg dorthin bin.
Mehr über den Autor:
Kurvenkratzer unter sich: Martina Hagspiel, die die Plattform ins Leben gerufen hat, spricht in einem Videointerview mit Alexander Greiner über seine Erkrankung. Es lohnt sich, dieses Video anzuschauen!
Alexander Greiners Krebsblog
Alex zu Gast bei einer Podiumsdiskussion auf der YesCon 2020:
Alex Instagram-Account:
Alex gesammelte Links unter: https://linktr.ee/schreibgreiner
Hier geht’s zu meiner Krebs-Bestsellerliste mit den Links zu den anderen Rezensionen: https://www.influcancer.com/blog/annettes-krebs-bestsellerliste/