100 Tage nach Transplantation
Am 18. September war Tag 100 nach der Transplantation.
Am 21. September hatte ich wieder einen Termin in der Ambulanz in Stuttgart und es gab die ersten Ergebnisse der Knochenmarkspunktion die die Woche davor gemacht wurde: Keine Blasten, komplette Remission! Meine „Zell-Blumenwiese“ ist zwar noch etwas spärlich besiedelt, aber es ist von allem da und kein Unkraut dazwischen! So soll es sein! Dass die Knochenmarkspunktion auch keine „sicca“ war, also genug Blut kam, deutet an, dass die Fibrose im Knochenmark sich schon zurückbildet – auch ein gutes Zeichen!
Also eigentlich alles tippi-toppi!
Blöd nur, dass diese Ergebnisse gerade so gar nicht mit meinem Gesundheits- und Gemütszustand zusammenpassen:
Die Woche vor Tag 100 hatte ich das Gefühl, dass wieder eine GvHD (dass mein neues Immunsystem meinen eigenen Körper angreift – Die Haut fühlt sich an, als hätte ich Sonnenbrand, Magen-Darm-fühlt sich auch irgendwie enzündet an…..) im Anmarsch ist und deshalb gab es für mich wieder eine Stoßtherapie Prednisolon (Kortison, das unterdrückt das Immunsystem). Hat was gebracht, die Symptome der GvHD sind zurückgegangen und ich konnte unseren (ersten!!!) Kurzurlaub in Italien mit meinem Bruder und dessen Lebensgefährtin genießen!
Jetzt hab ich aber wieder das Prednisolon an der Backe – das muss jetzt langsam wieder runtergesetzt werden, was sich über Wochen ziehen wird (aktuell bin ich auch noch über der Cushing-Schwelle). Da Prednisolon das komplette Immunsystem unspezifisch unterdrückt bin ich anfälliger für Infekte – schön dass jetzt der Herbst kommt mit all den Erkältungskrankheiten und auch jeder gerade Corona durchmacht…
Seit letzter Woche fühle ich mich, als hätte man mir wieder den Stecker gezogen – Extrem schlapp und müde, auf der Ebene laufen geht, aber bei Treppen bin ich sofort außer Puste und muss Pausen machen.
Meine Arme und Beine sind wahnsinnig schwer, ich hab keine Kraft. Meine Tochter kann ich gerade so hochheben. Der Tremor in den Händen wird schlimmer, zum Teil kann ich mein Handy gar nicht bedienen, so sehr zitter ich. Meine Schrift ist katastrophal. Die Missempfindungen in den Fingern und Füßen werden immer schlimmer – warm/kalt kann ich mit den Händen kaum richtig unterscheiden, es kribbelt in den Händen – kochen geht nur noch mit Handschuhen, alles andere ist unangenehm. Mit Handschuhen (und Missempfindungen, Tremor) kochen ist aber auch extrem nervig – schneiden, Verpackungen aufreißen – alles geht schlechter.
Meine Nägel sind von der letzten Chemo-Therapie gerade wieder extrem brüchig und rissig, ich muss aufpassen, dass ich mir nicht den halben Nagel abbreche – auch nicht hilfreich. Dick Nagellack und kurze Nägel schaffen ein bisschen Abhilfe, aber zum Beispiel meine Medikamente richten ist grenzwertig – manche Tabletten bekomme ich ohne Hilfsmittel gar nicht aus der Verpackung. Ich fühl mich also momentan wie eine 80-Jährige.
Diese Woche hat man auch gemerkt, dass mein Blutzucker viel zu hoch ist (zwischen 200-400mg/dl, normal wäre nüchtern unter 100 und nach dem Essen nicht über 150mg/dl) – vermutlich vom Prednisolon. Deshalb darf ich jetzt zusätzlich vor den Mahlzeiten Blutzucker messen (mit einem Tremor auch nicht so einfach wie gesagt) und seit dem Wochenende spritze ich zusätzlich Insulin… An sich kein Hexenwerk, aber das macht den Alltag nochmal komplizierter und unflexibler. Und ich mag übrigens immer noch keine Spritzen… Und meine Thrombozyten sind gerade recht niedrig, ich bekomme also sofort blaue Flecken – ja, z.T. auch vom Blutzucker messen!!!!!
Essen ist jetzt wieder ein Riesen Thema geworden leider im negativen Sinne – auf der einen Seite gibt es von der Transplantation noch die Einschränkungen (keine Roh(milch)produkte, alles muss gut gewaschen sein…) und jetzt auf der anderen Seite der Blutzucker – tatsächlich sieht man die Kohlenhydratreichen Gerichte sofort in den Blutzuckerwerten…. Gönn ich mir jetzt meinen geliebten Nachtisch oder lass ich ihn weg??? Auch (oder vielleicht auch deshalb) der Appetit und Geschmackssinn ist gerade ein bisschen weg – alles ist irgendwie „mäh“. Dabei ist gutes Essen so wichtig für mich…
Meine Hobbies (kochen, backen, essen, draußen sein, kommunizieren/schreiben, im Haushalt rumwurschteln) kann ich momentan also nicht richtig ausführen oder genießen und ich fühle mich wieder vermehrt „nutzlos“. Das frustriert extrem. Vor allem, weil auch schonmal deutlich mehr ging. Beim Neurologen war ich diese Woche übrigens auch – neurologische Schäden sind eindeutig da -Was ist reversibel? Was bleibt? In welchem Ausmaß? Was ist vielleicht auch aktuell einfach eine Nebenwirkung von den ganzen Medikamenten? Oder vom zu hohen Blutzucker? Muss man wohl abwarten….
Und dann bin ich ja nicht alleine, sondern wir sind eine junge Familie mit all den Alltagsüberraschungen, die oft zwar wunderschön sind, aber eben auch anstrengend und fordernd sein können. Meine Tochter, die nachts 2x kotzt – und ich soll Abstand halten und meinen Mann alles machen lassen wegen Keimgefahr. Die deswegen dann nicht in die Kita darf – Betreuung muss organisiert werden. (Und da haben wir ja an sich dank super involvierten (Schwieger-)Eltern den Jackpot gezogen – aber momentan sind beide Omas nicht da wegen Urlaub/Beruf). Zusätzlich kommt ein Backenzahn und meine Tochter und ist verständlicherweise vermehrt knatschig. Ihr klar zu machen, dass sie beim Papa toben darf, aber nicht bei mir klappt auch nicht immer – ich habe mittlerweile extrem viele blaue Flecken…
Laut meiner Onkologin ist es auf lange Sicht ganz gut, dass es bei mir nicht nur gerade bergauf geht, sondern es auch mal einen Rückschlag gibt – sie erklärt die Knochenmarkspende immer mit der „Wachhund“-Analogie: Ich hab mit der Transplantation einen neuen Wachhund (mein neues Immunsystem) bekommen. Und offensichtlich hab ich einen ordentlichen Wachhund bekommen, also einen Dobermann – der sich eben gerade ein bisschen austobt und ganz viel neues lernt – und eben auch mal nach seinem neuen Frauchen schnappt – was ich gerade daran merke, dass ich so schlapp bin – in meinem Körper tobt sich das neue Immunsystem gerade ein bisschen aus! Hätte ich einen Pinscher bekommen, würde es mir aktuell zwar vielleicht viel besser gehen – aber ein Pinscher schützt mich halt nicht so gut wie ein Dobermann! So hab ich es aktuell zwar ein bisschen schwer – aber auf lange Sicht stehen die Chancen gut, dass ich in Remission bleibe.
Meine Psychoonkologin (und alle anderen auch…) sagt mir, dass ich nicht so hart mit mir sein soll – seit Januar steht mein Leben auf dem Kopf, mein Körper und Geist hat in dieser Zeit wahnsinnig viel durchmachen müssen – irgendwann sind nunmal die Reserven aufgebraucht und der Akku ist leer. Körperlich und psychisch. Das ist völlig menschlich. Wie soll man da auch immer gut gelaunt und positiv sein.
Sie hat wohl recht. Prinzipiell bin ich nach wie vor ein positiv eingestellter Mensch, der das Glas halb voll sieht. Aber an manchen Tagen fällt es mir schwerer. Gerade sind es solche Tage. Ich versuche mir zu sagen, dass das okay ist. An manchen Tagen kann ich das akzeptieren. Aber an manchen Tagen fällt es mir schwerer. Gerade sind es solche Tage.