Erleichterung vs. Belastung
Annette fragt… Marvin Kässheimer
Ich selbst war Anfang 40, als der Krebs in mein Leben trat. Recht jung. Aber im Vergleich zu Marvin Kässheimer ging das ja noch.
Denn der war noch nicht mal 20 Jahre alt, als eine bedrohliche Krebsdiagnose in sein Leben crashte und ihn direkt aus der Berufsausbildung in den Krankenstand setzte.
Marvin ist heute, gute anderthalb Jahre nach seiner Diagnose krebsfrei und stieß vor einem Jahr etwa zur Selbsthilfegruppe “Jung und Krebs Team Wutachtal”, für dich ich aktiv bin.
Ich freue mich total, dass „unser Küken mir für “Annette fragt” seine Geschichte erzählt hat. Er wird damit uicherlich ganz vielen (sehr) jungen Krebsbetroffenen Mut und Zuversicht geben. Ihr seid nicht allein!
Annette: „Krebs – das ist doch was für alte Leute“. Ich bin ehrlich, bevor ich selbst von einer Krebsdiagnose überrumpelt wurde, spukte dieses Vorurteil auch in meinem Kopf herum (jüngere Menschen im Umfeld, die daran erkrankt waren, verdrängte ich irgendwie).
Lieber Marvin, du bist das lebende Beispiel dafür, dass der Krebs kein Alter kennt. Dich ereilte die Diagnose eines Nephroplastoms (ein Tumor in der Niere), als du noch nicht mal 20 Jahre alt warst. Nimm uns mal mit: Wie kam es zur Diagnose? Wo befandest du dich privat, schulisch bzw. beruflich gesehen zu diesem Zeitpunkt?
Marvin: Alles begann am 22.April 2022 um die Mittagszeit. Es war der letzte Freitag, bevor in Baden-Württemberg die Osterferien zu Ende gingen. Ich war zu dem Zeitpunkt psychisch ein wenig belastet, da ich mit einem Freund aufgrund einiger Differenzen auseinander gegangen war. Das fiel mir persönlich sehr schwer, da ich damals auf ihn einen Crush hatte.
Es war eine normale Arbeitswoche. Gerade war Mittagspause und ich saß zuhause am Küchentisch und trank meinen Kaffee. Ich merkte, wie ich – wie angeflogen – im rechten Rückenbereich starke Schmerzen bekam. Ich schob es zuerst auf eine falsche Bewegung bei der Arbeit und ignorierte es erstmal. Ich war zu dem Zeitpunkt Auszubildender Fachkraft für Lagerlogistik im ersten Lehrjahr in einem bekannten Metallbetrieb in der Gemeinde Wutöschingen. Meine schulische Ausbildung absolviere ich an einer der Kaufmännischen Schule in Lörrach.
Ich ging zurück an meinen Arbeitsplatz und machte meinen Job weiter. Die Rückenschmerzen wurden aber nicht besser und die restlichen Stunden bis zum Feierabend waren ein absoluter Kampf mit den Schmerzen. Ich stempelte um halb vier am Nachmittag zum Feierabend aus und ging heim.
In der Hoffnung das die Schmerzen besser werden nahm ich eine Ibu 400 und ging relativ früh ins Bett. Ich bekam aber die ganze Nacht nicht ein Auge zu, die Schmerzen strahlten in jener Nacht bis in den rechten Bauchraum aus. Ich tippte auf den Blinddarm. Und so brachten mich meine Eltern am 23. April in die Notaufnahme nach Waldshut. Dort lag ich über sechs Stunden, bis abends ein CT gemacht wurde.
Spät am Abend kam ein Arzt aus der Notaufnahme und sagte mir, ich hätte eine Raumforderung an der rechten Niere, einen Tumor. So wurde ich stationär aufgenommen, blieb bis zum 26. April im Klinikum und wurde dann nach Hause entlassen. Für den 29. April organisierte das Klinikum in Waldshut einen Termin im ITZ am Universitätsklinikum in Freiburg. Auch diesen durfte ich nur ohne meine Eltern wahrnehmen, Corona Vorschriften verbaten es mir eine Begleitperson dabei zu haben.
Beim Gespräch wurde das Zepter an die Urologen übergeben, diese sich um einen möglichst Zeitnahen OP-Termin kümmern. Dies geschah dann auf den Tag genau eine Woche später. Meine Eltern warteten währenddessen draußen auf mich und wir gingen nach dem Gespräch am Freiburger Hauptbahnhof zu Starbucks. Bis zum 06. Mai wurde mir Morphium verschrieben, wodurch es mir schon fast blendend ging.
Mir wurde am 06. Mai ein 20x10x10 cm großer Tumor aus- und an der rechten Niere entfernt. Das Ergebnis lässt auf sich warten. Wir schreiben inzwischen den 30. Mai. Die Operation war schon gut drei Wochen her und der pathologische Befund war noch nicht da. Ich war, aber zuversichtlich, dass es nichts Schlimmes war und ich bald wieder arbeiten konnte. Zur Schule ging ich bereits anderthalb Wochen nach der OP wieder, um so wenig Stoff wie möglich zu verpassen.
Der 30. Mai war ein Montag und ich saß im Wartezimmer der urologischen Praxis in Bad Säckingen. Meine Urologin hatte beide Nieren geschallt und hatte den pathologischen Befund aus Freiburg per Fax angefordert. Sie bat mich, im Wartezimmer nochmal Platz zu nehmen, und verschwand mit dem Bericht in ihrem Zimmer. Ein paar Minuten später bat sie mich zu sich ins Zimmer. Ich sollte mich hinsetzen. Sie rief in Freiburg an und ließ sich den Befund nochmals bestätigen. Dann sagte sie mir – ich höre die Stimme heute noch! – diesen Satz:“ Herr Kässheimer, das, was Ihnen entfernt wurde war ein Nephroblastom“.
Sie erklärte mir was ein Nephroblastom war, dass er auch unter dem Namen Wilms-Tumor bekannt sei und dass es ein Krebstumor war. Ich saß fassungslos da und schaute sie einfach nur an. Irgendwann stand ich auf, ging aus der Praxis und rief meine Eltern an. Sie baten mich zu meinen Großeltern zu gehen. Dort angekommen, brach ich dann in Tränen im Arm meiner Oma zusammen.
Annette: Welchen Therapieweg bist du gegangen? Welche Chancen haben die Ärzt*innen dir zu Beginn deiner Therapien ausgerechnet?
Marvin: Ich bin insgesamt drei verschiedene Therapien gegangen und hatte unter einer neun Stunden Operation im September 2022 eine HIPAC Therapie, wo mir die gesamte rechte Niere und Nebenniere, der Blinddarm, die Gallenblase und ein Stück vom Bauchfell entfernt wurden.
Die Onkologen gaben mir zu Beginn trotz des Stadiums III. gute Chancen, da der Wilms-Tumor eine sehr gute Heilungschance hat. Es wurde mir gesagt, in einem Jahr um diese Zeit wäre ich dem Thema durch.
Zuerst wurde von Mitte Juni – Mitte Juli 2022 die Chemotherapie via Umbrella Protokoll gemacht. Dieses Protokoll wird standardmäßig beim Wilms-Tumor gemacht.
Leider zeigte sich Mitte Juli bei einem MRT, dass ich im gesamten rechten Bauchraum voller Metastasen war. Daraufhin wurde die hochaggressive Chemotherapie nach dem ICE-Protokoll durchgeführt und parallel dazu eine Stammzellsammlung für eine mögliche Hochdosischemotherapie. Das MRT hat hierfür leider im August 2022 ebenfalls gezeigt, dass die Metastasen resistent sind und unter der Chemotherapie sogar wuchsen.
Die Prognose stand in jenen Tagen äußerst schlecht um mich.
In Absprache mit mir und der Studienzentrale für Wilms-Tumore in Homburg im Saarland, stellte Freiburg eine eigene Chemotherapie zusammen mit dem Ziel das Wachstum der Metastasen zum Stillstand zu bringen. Diesen Erfolg brachte die Therapie dann endlich auch, wie sich Anfang September 2022 im MRT zeigte.
Ich erinnere mich noch daran, dass meine Onkologen mich anriefen, um mir diese Neuigkeiten zu übermitteln, als in den Medien die Nachrichten kamen, dass Queen Elizabeth II. gestorben war.
Annette: Sicherlich war diese Diagnose ein Riesenschock und du warst erstmal wie gelähmt. Mit nicht mal 20 Jahren wurdest du mit dem einer potentiell tödlichen Krankheit konfrontiert. Was hat das mental mit dir gemacht? Wie ging es dir psychisch in der ersten Zeit?
Marvin: Die erste Zeit konnte ich das psychisch gar nicht richtig einordnen. Für mich stand nur fest, um keinen Preis der Welt aufgeben (ganz unter dem Motto: „Wer kämpft, gewinnt, wer nicht kämpft hat schon verloren.“).
Es wurden viele Tränen vergossen, natürlich, meine Familie und ich nahmen also noch so viele Ausflüge wie möglich vor der Therapie war: ein Besuch auf der Hohkönigsburg im Elsass, das kleine Elsässer Örtchen Riquewihr und den Europa Park in Rust mit einem damaligen Freund.
Es gab zu Beginn der ersten Chemotherapie während der stationären Aufnahme den vielleicht größten Lachanfall in all der Zeit. Ich hatte einen Termin in der Endokrinologie zur Konservierung meiner Spermien. Das Aufklärungsgespräch hatte ich im Beisein meiner Oma. Der Arzt und seine Assistentin klärten uns auf, was die Chemotherapie mit den Spermien machen kann, und wie dann die künstliche Befruchtung ablaufen würde. Irgendwann saßen meine Oma und ich mit einem Lachen da, meine Oma bat mich, es dem Arzt zu sagen, woraufhin ich dem Arzt sagte, dass ich auf Männer stehe. Der Arzt hatte gleich umgelenkt und das Gespräch konnte fortgesetzt werden.
Mental war ich meistens optimistisch, auch, weil ich von meiner Familie und meinen Freunden viel Zuversicht bekam, dass alles gut ausgehen wird.
Annette: Was und/oder wer hat dir Kraft und Halt gegeben?
Marvin: Definitiv meine Familie und meine Freund*innen. Sie haben mir Tag für Tag Zuspruch gegeben, dass alles positiv ausgehen wird und ich wieder gesund werde.
Aber auch mein Glaube hat mich in all dieser Zeit unterstützt. Kurz vor Beginn der dritten Chemotherapie, suchte ich in der Onkologie die Klinik-Kapelle auf für ein Gebet, das die Therapie anschlägt. Denn meine Familie braucht mich, meine Freund*innen, meine drei Katzen. Und auch, weil ich mit 19 Jahren nicht sterben wollte.
Diese Therapie schlug endlich an!
Annette: Du bist mittlerweile im Leben nach Krebs angekommen und – Stand heute – krebsfrei. Glückwunsch! Hast du noch mit Nachwirkungen von OPs, Chemo und Co. zu tun?
Marvin: Soweit habe ich wieder zurück ins Leben gefunden. Mir jucken und ziehen meine OP-Narben, wenn das Wetter umschlägt. Das ist die so ziemlich die einzige Nachwirkung, die mitunter auch sehr unangenehm ist.
Annette: Du hast dich im Sommer 2023, also gut ein Jahr nach deiner Diagnose per Mail bei mir gemeldet und kamst dann zum ersten Mal zu uns in die „Selbsthilfegruppe Jung und Krebs Team Wutachtal.“ Seitdem bist du regelmäßig dabei. Es ist schön, dass wir von Jung und Krebs dich auf deinem Heilungsweg begleiten und unterstützen dürfen.
Sag, was gibt dir der Austausch mit Markus, mir und den anderen?
Marvin: Der Austausch mit den anderen hilft mir. Denn er zeigt mir, dass ich gewiss nicht der einzige mit Krebs bin. Dass das Leben mehr zu bieten hat als Krebs und Kliniken. Dass man sich auch mit anderen einfach darüber austauschen kann. Und er hilft mir persönlich, psychisch mit dem Ganzen fertig zu werden.
Annette: Gedankenspiel… Wenn du die Zeit zurückdrehen könntest: Wo hättest du gerne andere Unterstützung oder Hilfe von Seiten der Ärzt*innen oder deines Umfeldes erfahren? Was würdest du selbst heute anders machen?
Marvin: Auf Seiten der Ärztinnen und Ärzte, insbesondere der Onkologie, Chirurgie und Strahlenheilkunde, habe ich nichts zu bemängeln. Sie alle sind der medizinische Grund, dass ich noch da bin und wieder auf dem Wege der Genesung bin.
Von meinem Umfeld hätte ich mir gewünscht, dass ich nicht ständig bemitleidet worden wäre. Außerdem vergaß man oft, dass meine Familie psychisch darunter litt. Deshalb hätte ich mir gewünscht, dass man nicht nur mich fragt, wie es mir geht, sondern auch meiner Familie.
Es ist einfach nach mir zu fragen, aber nicht: „Wie geht es dir eigentlich? Mach dir keine Sorgen, dein Sohn, Bruder und Enkel ist in guten Händen. Du kannst aber auch mit mir reden, wenn du möchtest.“
Annette: Und… Gibt es vielleicht sogar etwas, von dem du sagst, dass es dich in irgendeiner Weise weitergebracht hat und du es – trotz der beschissenenen Erfahrung, die deine Krebserkrankung war – für immer als „gut“ in Erinnerung behalten wirst?
Marvin: Ich habe trotz der beschissenen Erfahrung sehen können auf, wenn ich mich verlassen kann, und vor allem hat er meine Familie noch mehr zusammengeschweißt als ohnehin schon. Ich gehe mit vielen Sachen entspannter um und zerreiße mir nicht mehr so oft den Kopf über irgendwas.
Ich habe festgestellt, dass ich auch die höchsten Hürden überwinden kann und jeden Kampf gewinnen kann.
Mich begleiten seit meiner Krebserkrankung auch drei Lieder, die für mich das musikalische Motto waren, niemals aufzugeben:
- Bryan Adams „You can´t take me “
- Bee Gees „You Win Again“
- 1997er „Candle in the Wind” von Sir Elton John.
Ich habe viele wundervolle Menschen in Freiburg kennen lernen dürfen und die erwähnte Geschichte aus der Endokrinologie wird der für mich vielleicht lustigste Moment in der ganzen Zeit bleiben.
Annette: Lieber Marvin, vor dem Hintergrund deiner Erfahrung: Welche drei Tipps hast du für andere junge Menschen, die gerade erst eine Krebsdiagnose erhalten haben?
Marvin:
1: Niemals bemitleiden zu lassen! Das zieht einen nur runter und man fällt dann psychisch in ein tiefes Loch und dann hat einen der Krebs im Griff.
2: Bleibt immer optimistisch! Das Leben hält für euch noch so viel offen. Kämpft gegen den Krebs, sagt ihm, dass er ein Arschloch ist und ihr die Oberhand behaltet und dem „Mistvieh“ den Hals umdreht.
3: Versucht trotz allem das Beste daraus zu machen und den Alltag weitestgehend normal zu führen. Dann ist man nicht dauernd mit dem Thema Krebs konfrontiert. Das hilft euch vor allem psychsich sehr gut.
Annette: Ich schreibe auf meinem Krebsblog und Instaprofil. Du hast mir verraten, dass du auch ein Buch über die 62 turbulentesten Wochen deines Lebens schreiben möchtest. Wow! Jede unserer Geschichten ist so wichtig.
Welche Message möchtest du deinen Leser*innen gern mit auf den Weg geben?
Marvin: Wie schnell sich das Leben ändern kann und dass man definitiv jeden Tag wertschätzen sollte. Man weiß nie, was der nächste Morgen mit sich bringt. Genießt die noch so kleinen unscheinbaren Dinge im Leben. Das sind meistens die Dinge, die für immer im Kopf und vor allem im Herzen bleiben werden.
Annette: Lieber Marvin, ich bin schon ein bisschen stolz, dass du als Küken unserer Selbsthilfegruppe mir so ein offenes Interview gegeben hast. Danke dir für deine ehrlichen Einblicke und mutmachenden Worte. Alles, alles Gute für dich! Ich freu mich auf unser Wiedersehen in Mauchen.
Mehr über Marvin:
Marvin auf Instagram
Marvin auf Facebook
Marvin im Podcast bei Kendra Zwiefka
Und hier geht’s zu den anderen schon veröffentlichten Interviews aus der Reihe “Annette fragt…”