Unter dem Motto „talk about cancer“ beschäftigen wir uns mit den vielen Facetten einer Krebserkrankung.hello@kurvenkratzer.at

(B)LOGBUCHEINTRAG VOM 05.02.2020: Freiheit, Spaziergänge und die ernüchternde Nachricht.

Der Tag beginnt holprig. Um 02:00 Uhr bin ich immer noch hellwach. Dabei hatte ich gestern gar kein nennenswertes Nickerchen, dass ich so lange wach bleibe. Ich überlege, woran es liegt und schiebe es auf zu viel Fruchtzuckerkonsum und auf die Aufregung, weil es wohl morgen (also heute) dann endlich nach Hause geht – hoffentlich. War aber auch echt viel. 1,5 Liter Ananassaftschorle, 0,33 Liter frisch gepresstes Orangensaft, 1 Bowl Ananasstückchen, 1 oder 2 Äpfel, 1 Glas Babybrei. Da kommt schon einiges zusammen. Egal, der Körper gierte danach, er sollte es bekommen.

Um 6:30 Uhr bin ich wieder wach. Egal! Aufstehen! Duschen! Sachen zu Ende verpacken.

Nachdem duschen stelle ich fest, dass die Achseln bereits komplett enthaart sind. Kann das Deo wenigstens besser einziehen.

Um 7:45 Uhr dann noch ein letztes Mal Vitalwerte checken:

  • Sauerstoffsättigung: 98 %
  • Puls: 83
  • Blutdruck: 143/97

Hui, der ist aber hoch! Wahrscheinlich auch die Aufregung. Denkt auch Pfleger Ben. Ein letztes Mal Blutabgabe. Ben hat eine junge Krankenschwester dabei. Sie darf heute an mir üben. Ich biete mich bereitwillig an. Schließlich waren hier ja alle immer begeistert und bescheinigten mir „tolle Venen“! Die Schwester hat ein bisschen Bammel. Ich rede ihr gut zu. „Wird schon. Immer mit der Ruhe.“

Es wird. Punktlandung. Vene perfekt getroffen. Die Übungslage war aber auch herausragend von mit vorbereitet. Diverse Einstichstellen von den Abgaben der letzten Tagen markierten vorbildlich das Zielgebiet, wie wir früher beim Bund immer gesagt hätten.

Um 08:04 Uhr ist meine Süße da. Klamotten ins Auto werfen, damit ich das Geraffel schon mal los bin. Ich will nachher dann mal schauen, wie weit ich die 5 km von der Klinik bis nach Haus zu Fuß schaffe. Bewegung ist jetzt die oberste Prämisse.

Danach heißt es warten auf Frau Dr. Ich bin von meiner Seite aus entlassungsbereit.

Mein Fazit nach der ersten von 4 bzw. 6 Chemos:
Laune/Motivation: ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️/⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️
Befinden: ⭐️⭐️⭐️⭐️/⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️
Kondition: ⭐️⭐️⭐️/⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️

Alles in allem war der Erstschlag augenscheinlich erfolgreich. Vor der Visite höre ich Frau Dr. auf dem Flur, wie sie den Chefarzt brieft:

„Der Patient geht heute nach Hause, hat den ersten Zyklus sehr gut weggesteckt. Der Körper hat sehr gut auf die Medikamente reagiert!“

(Teil-)Mission erfolgreich!

Erstschlag erfolgreich!

Dann die Ernüchterung! Frau Dr. bringt den Entlassbrief und verabschiedet mich mit den Worten: „Ich habe einen Termin für Montag, 11:50 Uhr gemacht. Blutbildkontrolle! Und für den zweiten Zyklus sehen wir uns dann wieder hier.“. „Wir sehen uns wieder hier? Wieder stationär?“ „Ja. Müssen wir leider. Bei Ihnen trat während der Behandlung kurzzeitig eine akute Neutropenie* und eine milden Thrombozytopenie* auf. Das kann schnell lebensbedrohlich werden. Deshalb müssen wir hier jedes Risiko ausschließen!“. Das war es dann wohl auch mit der Geburtstagsfeier von Alex‘ Dad am kommenden Wochenende. „Na gut.“ stammele ich raus. „Dann ist das wohl so. Dann bis nächste Woche. Ach, bevor ich’s vergesse: wie ist denn Ihre Prognose für die aktuelle Bachelor-Staffel?“. „Phu, schwierig. Am Ende wird’s wahrscheinlich eine ‚Jenny‘.“. Ich halte mit „Wioleta“ dagegen.

Jetzt genieße ich aber erstmal die kommenden 7 Tage Ruhe und Erholung zu Hause. Ab Donnerstag nächster Woche geht es dann wieder in den Kampf. Dann wird sich zeigen, ob 4 Jahre Bundeswehr noch etwas Kampfesgeist, -Lust und Disziplin hinterlassen haben. Ich jedenfalls lasse mich dadurch nicht entmutigen, sondern kriege im Gegenteil nur noch mehr Bock, es dem kleinen Sausack** zu zeigen. Und das so schnell und effektiv wie möglich. Wie die Amerikaner sagen würden: „tief rein und schnell wieder raus!“.

In diesem Sinne, nachfolgend der Schlachtplan für Durchgang II.

Die Schlacht am Hodgkin-Graben von 2020.

*Neutropenie: Eine Neutropenie bezeichnet das Absinken der Anzahl an Neutrophilen im Blut. Neutrophile sind die Immunzellen bei uns Menschen. Sie sind Teil des Blutes, der den meisten unter dem Begriff „weiße Blutkörperchen“ bekannt sein sollte. Neutrophile sind die Fresszellen des Immunsystems, die sich auf eindringende Infekte stürzen. Dadurch isolieren sie Bakterien und Viren und hindern sie daran, dass sie sich unkontrolliert im Körper verteilen.

Der Normwert beim Menschen liegt bei ca. 160 bis 710 Neutrophile pro Mikroliter. Am 31.01.2020 sanken die Neutrophile bei mir gegen 0 Neutrophile pro Mikroliter und alarmierte somit die Ärzte über eine Neutropenie CTCEA Grad 4. Was sich im Arztbrief eher nüchtern liest, bedeutet im Klartext aber höchste Alarmbereitschaft. Der kleinste Bakterien- und Virusbefalls würde Fieber auslösen, die Eindringlinge sich unkontrolliert ausbreiten können. Dann wäre es wohl an der Zeit für Grad 5… Dieser würde im Arztbrief wohl kryptisch mit dem „Exitus des Patienten“ verschlüsselt werden. Wenn ich jetzt im Nachhinein, zu Hause am Esstisch, darüber nachdenke, wie dicht ich da vor 6 Tagen noch am Abgrund stand, schüttelt es mich. Zum Glück haben die Ärzte richtig und schnell reagiert und im Vorfeld am 26.01.2020 bereits Neulasta 6 mg gespritzt. Nur dadurch verringerte sich das Zeitfenster, in denen Eindringlinge mich hätten befallen können deutlich. Denn am 02.02.2020 waren die Werte mit 160 Neutrophile zwar noch im unteren, aber immerhin schon mal wieder im Normalbereich. Am 03.02.2020 erholten sie sich weiter auf 300 NP / μl. Heute am 05.02.2020 konnte ich mit einem deutlichen Überschuss von 810 Neutrophile / μl entlassen werden. Dennoch habe ich jetzt schon noch ein bisschen mehr Respekt vor meinem Gegner und des kommenden Gefechts. Respekt… mehr aber auch nicht.

Gradeinteilung der Neutropenie nach CTCAE. Meine Neutrophilenwerte vom 23.01.2020 (3.7), vom 31.01.2020 (0.0 L), vom 02.02.2020 fehlt der Eintrag. Am 03.02.2020 erhöht sich der Wert wieder auf 3.0. Heute laufe ich mit einem deutlichen Überschuss an Neutrophilen rum. Am kommenden Montag kontrollieren wir erneut.Das markiert den Bereich „critical low“. markiert eine hohe Anzahl an Neutrophilen.

Eine Thromozytopenie ist quasi das gleiche wie eine Neutropenie, betrifft jedoch die Thrombozyten, also die für die Blutgerinnung zuständigen Blutplättchen.

Um das alles erstmal zu verdauen, habe ich beschlossen, den Heimweg nun in der Tat aktiv zu bestreiten. Ich gehe die 5.3 km vom AK Barmbek zu Fuß nach Hause. Am Ende des Tages kann sich meine Bewegungsstatistik sehen lassen. Zumindest für jemanden, der vor einer Woche noch Gevatter tot ins Gesicht gelacht hat.

All diese völlig neuen Informationen, die ich heute bekommen und verarbeitet habe, machen irgendwas mit mir. Klingt klischeehaft, aber irgendwas arbeitet in mir. Eine Kraft, die mich auffordert bewusster zu leben.

Der erste Schritt: ich koche heute Abend selbst. Frisches Zeug. Kein Conveniencescheiß. Nix aus Plastik oder Konserve. Frisch. Ich mache meine hausgemachten Bifteki. Dazu schmoren wir uns eine Gemüsepfanne mit Paprika, Tomaten und Zucchini. Zu Bifteki darf Zaziki natürlich auch nicht fehlen. Als Belohnung für den gewonnenen Kampf der letzten 14 Tage erlaube ich mir eine kleine Kiezmische.

Danach freue ich mich auf den ersten Abend seit 14 Tagen mit meiner Süßen. Bachelor-Time.

**Sausack: Der Begriff Sausack bildet nach alten Überlieferungen das preußische Pendant zum angelsächsischen Wort „sausage“, also Würstchen. Und so passt es, ist der Krebs für mich momentan ein kleines armes Würstchen, dass jetzt einen dicken fetten Arschtritt bekommt.

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