Unter dem Motto „talk about cancer“ beschäftigen wir uns mit den vielen Facetten einer Krebserkrankung.hello@kurvenkratzer.at

Mein Bruder

Die Gesellschaft lehrt uns, dass man Familie nicht im Stich lässt, dass man füreinander da ist, dass man zueinander zu stehen hat komme was wolle.

“Blut ist dicker als Wasser”. Jeder hat es schonmal gehört.

 

Ich sehe das anders. Wem ich meine Zeit, meine Aufmerksamkeit und meine Liebe schenke mache ich nicht von Genen abhängig, sondern einzig und allein von meiner persönlichen Zuneigung. Meine beste Freundin, die seit vielen Jahren hinter mir steht, mich so akzeptiert wie ich bin, mir ehrlich ihre Meinung sagt, ohne Angst vor Konflikten, steht mir mindestens genauso nah, wie meine Schwester, die ich über alles liebe, zu der ich aber über weite Strecken meines Lebens fast gar keinen Kontakt hatte.

Mein Großvater, der “nur” der zweite, und obendrein inzwischen verwitwete, Ehemann meiner Großmutter ist, ist und war immer mein Lieblingsopa und wer Unterschiede sah oder machen wollte zwischen meinen Pflegegeschwistern und mir erzeugte bei mir immer schon Wut und Traurigkeit.

 

Man kann sich seine Familie wählen! Und ich habe mir meine gewählt.

Ich habe einen Mann gefunden der meine Meinung, meine Ideale und meine Überzeugungen teilt. Wir haben ein wunderbares Kind in die Welt gesetzt. Ich habe meine eigene kleine Familie gegründet.

 

Und dann ist da noch mein Bruder.

Ich habe nur wenige Erinnerungen an gemeinsame Momente aus unserer Kindheit. Er war zwar da, wir verbrachten immerhin die ersten 12 Jahre seines Lebens im gleichen Haushalt, aber er war doch kein großer Teil meines Alltags.

 

Als Spielkamerad war er zu jung. Ich mochte ihn gern. Ich holte ihn aus dem Kindergarten ab, turnte mit ihm durchs Wohnzimmer, frisierte und schminkte ihn zu Fasching und schickte ihn auch nicht weg, wenn ich Besuch hatte. Und dennoch kann ich die gemeinsamen Erlebnisse an die ich mich erinnern kann fast an einer Hand abzählen.

 

Als mein Bruder 12 war zog ich aus. Seine Teenagerzeit erlebte ich nur aus der Ferne. Als große Schwester mit Führerschein war ich manchmal Chauffeurin zu Sportveranstaltungen, Trainings oder auch zu Freunden. Einmal die Woche kam er meinen Vater und mich besuchen.

 

Als mein Bruder 14 war zog ich zum studieren weg.

Nicht weit weg, aber weit genug, dass man sich nicht mehr “zufällig” begegnete.

 

Immer Mal wieder kam mein Vater mich besuchen und brachte meinen Bruder mit. Meistens gingen wir bowlen.

 

Meine Schwangerschaft kam für meine Geschwister absolut überraschend. Die Reaktion und das was folgen sollte kam dafür für mich überraschend.

 

Mein kleiner Bruder, den ich immer Recht unemotional wahrgenommen hatte war vom ersten Tag an so hin und weg von meiner Tochter, wie es wohl selten ein Onkel von seiner Nichte ist.

Nach der Geburt besuchte er uns so ziemlich jedes Wochenende. Er verbrachte seine Freizeit mit uns und kümmerte sich unglaublich rührend um meine Kleine. Er begleitete jeden ihrer Entwicklungsschritte mit Begeisterung und wenn man ihn so reden oder mit ihr umgehen sah konnte man den stolz und die Liebe in seinen Augen sehen. Fast als sei sie sein Kind.

 

Wir hatten den Platz und er noch keinen richtigen Zukunftsplan und so wuchs der Gedanke er könne nach seinem Schulabschluss bei uns einziehen. Alle waren mit dieser Idee einverstanden. Der Plan stand.

Dann kam Corona.

Mein Bruder stand vor der Herausforderung seinen Abschluss im Homescooling vorbereiten zu müssen und ich bekam Bauchschmerzen beim Gedanken an den nahenden zweiten Geburtstag meiner Tochter, der das Ende meiner Elternzeit bedeuten würde. Ich war sicher die Schließung der Kindergärten war nur eine Frage der Zeit und ich machte mir große Sorgen wie ich die Betreuung meiner Tochter sicher stellen sollte.

Umso froher war ich über den Plan meinen Bruder aufzunehmen und ich sehnte das Ende seiner Schulzeit herbei.

 

Dann kam die Krebsdiagnose.

Mit einem Mal war alles anders. Das Ende meiner Elternzeit interessierte nicht mehr. Ohne Informationen über die neue, gefährliche Erkrankung war das Risiko der Fremdbetreuung meiner Tochter einfach zu groß.

 

Meinem Freund riss die Diagnose den Boden unter den Füßen weg. Erst zwei Monate vorher hatte er die Krebsdiagnose seiner Mutter verkraften müssen.

 

Sein Krankenstand kam uns dennoch zu Gute.

Meine Chemo begann, mein Freund war arbeitsunfähig Zuhause, meine Tochter durfte nicht mehr in die Kita und die Welt spann. Selbst die Spielplätze wurden zeitweise geschlossen.

Wir versuchten alles um meiner Tochter in der Isolation eines Einzelkindes das nicht mehr in die Kita darf, gerecht zu werden.

Sie bekam ein Trampolin und ein Laufrad.

Mit meinem Bruder durften wir zeitweise nichtmal spazieren gehen – wohnte er doch offiziell noch nicht bei uns.

 

Als mein Bruder seinen Abschluss endlich in der Tasche hatte war ich unendlich erleichtert. Ihn bei uns zu haben ist ein Privileg. Ich bin ausnahmslos jeden Tag froh und dankbar, dass ich ihn habe, dass er sich dieser Aufgabe gestellt hat und dass er sie, trotz seines jungen Alters, so toll meistert.

 

Nach einigen Wochen konnte und musste mein Freund wieder arbeiten gehen. Mein Bruder übernahm die komplette Kinderbetreuung und den Haushalt. Im Spätsommer stemmte er, mit meinem Freund, sogar noch einen Umzug.

 

Mein Bruder wohnt seit anderthalb Jahren bei uns. Es kommt mir länger vor.

Er ist in der Zeit älter geworden und so erwachsen. Er ist der Fels in der Brandung für meine Tochter und ein Grund warum mir der Tot keine Angst machen kann, denn ich weiß er wird da sein. Für meine Kleine. Gemeinsam mit meinem Mann.

 

In den letzten anderthalb Jahren habe ich meinen Bruder erst richtig kennengelernt. Habe erfahren was er über die Welt denkt, welche Werte er lebt und welche Überzeugungen er hat.

Er erinnert mich an mich. So straight, so kompromisslos.

Ich bin weicher geworden. Habe, trotz dass ich nur wenige Jahre “Vorsprung” habe einige Ideale und Überzeugungen glattgeschliffen und zurechtgebogen, damit sie in diese Welt, in meine Realität passen.

 

Wenn ich meinem Bruder zuhöre höre ich mich vor ein paar Jahren. Ich bewundere ihn für seine ganz oder gar nicht Mentalität, dass er sich nicht verbiegen lässt.

Manchmal mache ich mir auch Sorgen. Sorgen, dass er sich selbst das Leben unnötig schwer macht.

Ihm und seinen Ansprüchen gerecht zu werden ist fast unmöglich. Viel zu genau weiß er was er will und viel zu Kompromisslos ist er wann immer er Menschen kennen lernt. Manchmal mache ich mir Sorgen, dass ihn das einsam machen könnte. Aber ich weiß, er ist lieber alleine als Kompromisse bei den Menschen einzugehen die er in sein Herz schließt und allein sein bedeutet für ihn nicht einsam sein.

Umso stolzer bin ich zu diesen Menschen zu gehören!

 

Ich kann heute sagen ich liebe meinen Bruder aus tiefstem Herzen. Ich bewundere meinen Bruder. Er ist so jung und so taff und unbeugsam.

Meine Liebe und Bewunderung für ihn hat mit unseren gemeinsamen Genen nichts zu tun.

Ganz ehrlich – ich weiß nicht was ich ohne ihn machen würde.

 

Ich würde ihm so gerne so viel zurückgeben. Ich hoffe er weiß wie unendlich wertvoll das ist was er die letzten anderthalb Jahre getan hat und vermutlich noch eine ganze Weile tun wird.

 

Bruderherz – ich liebe dich! Und wenn dir hier manchmal alles zu viel oder zu blöd wird, dann ist das absolut normal!

Du bist jung! Du solltest frei sein! Du solltest all diese Verantwortung nicht tragen und du solltest mich so nicht sehen, mich nicht in diesem Alter auf diesem Weg begleiten.

 

Es tut mir unendlich leid, dass du deine Zeit und deine Kraft für uns opferst! Könnte ich die Situation ändern – ich würde!

 

Meine Kleine könnte keinen besseren Onkel haben!

Und ich keinen besseren Bruder!

 

Bleib wie du bist!

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