Annette fragt… Anna Farris
Ganz die Alte ?!
Da stehe ich nun, wie ein angegossener Pudel, nachdem man mich aus dem Wasser gezogen hat. Meine Atmung geht schwer, meine Sicht ist verschwommen. Ich bin wieder zurück im Leben angekommen, aber irgendwie auch nicht. Alles zieht rasant an mir vorüber, während ich regungslos stehen bleibe, unfähig mich in dieser neuen Umgebung zurechtzufinden, geschweige denn vorwärts zu kommen.
Nach einem Jahr voller kräftezehrender Therapien, Hoffnungsschimmern, tiefen Abgründen und Höhenflügen, stehe ich wieder mitten im Leben. Zumindest sieht mein Äußeres für das System danach aus. In meinem Inneren bin ich angespannt, abgekämpft, ängstlich, hilflos und dennoch auch voller Tatendrang. Wie bereits der Krebsüberlebende und Arzt Mullan in seinem oben erwähnten Zitat beschreibt, fühlt sich dieses neue Leben als sogenannter „Cancer Survivor“ so an, als ob man vor dem Ertrinken gerettet worden und dann aber klitschnass am Ufer stehen bleibt. Die politischen Strukturen unserer Gesellschaft schenken dem Leben nach dem Krebs so gut wie keine Aufmerksamkeit. Sobald die sichtbaren Einschränkungen und Komplikationen erstmal verschwunden sind und die anerkannte Zeit, die man als System respektabel für das Aussetzen beruflicher und gesellschaftlicher Pflichten ansieht, verstrichen ist, muss man wieder funktionieren. Ich bin noch nicht ganz trocken und auf der Suche nach dem Handtuch. Dennoch schreiten der Alltag und die damit verbundenen Pflichten und Aufgaben weiter voran.
„Du schaust gut aus, ganz wie die Alte“, höre ich Menschen sagen.
Anders als bei einem gebrochenem Bein oder einer körperlichen Einschränkung, sieht man mir kaum an, was dieser Körper und diese Seele durchgemacht haben. Und dennoch hinke ich hinterher, versuche auf diesen rasanten Zug des Alltagslebens aufzuspringen. Dinge, die vorher selbstverständlich möglich waren, sind nun deutlich schwieriger. Menschen, die mir wichtig waren, sind weitergegangen. Was mir vorher Freude bereitet hat, stimmt mich plötzlich sentimental und passt nicht mehr zu mir. Neue Wege sind noch unbeschritten und die Beschilderung fehlt. Ich drossele mein Tempo, stütze mich keuchend auf meinen Oberschenkeln ab und bleibe stehen.
Wir Krebsüberlebende kämpfen nach dem Kampf gegen die Erkrankung selbst vor allem mit neuen, noch nicht ausreichend gefestigten Rollenbildern, einem neuen Körperbild und einem veränderten Betätigungsverhalten. Dies steht oft in einem starken Kontrast zu dem, was von der Gesellschaft an uns herangetragen wird. Wiedereingliederung, Umschulung, Rehabilitation…alles Begriffe, die suggerieren, dass die Erkrankung zu Ende ist und somit wieder alles auf Normalität und Neuanfang ausgerichtet werden kann. Die normale Routine und Funktionalität des Alltagslebens wird wieder in gewohnter Form aufgenommen. Tatsächlich ist neben dem akuten Überlebenskampf während der Therapie, das am Leben bleiben eine ebenso schwere und komplexe Aufgabe.
Das Leben danach ist ebenso ein Kampf und Überleben heißt nicht zuletzt das Leben mit: Wahrscheinlichkeiten einen Rückfall zu erleiden, alles nochmal von vorne durchmachen zu müssen, Sorgen und Gedanken über die Zukunft, dem Wunsch eine Familie zu gründen und das Zurechtkommen mit dem Trümmerhaufen, den der Krebs zurückgelassen hat (körperliche und psychische Langzeit- und Spätfolgen)
An dieser Stelle sei einmal ein Danke an meinen Beifahrer auszusprechen. Dafür, dass er mir die Chance gegeben hat, mein Leben aus einer anderen Perspektive zu sehen, immer weiter an mir selbst zu arbeiten und zu wachsen und dem Leben einen komplett neuen Anstrich zu verpassen. Das Kompliment ich sei wieder ganz die Alte lehne ich also dankend ab. Danke, aber nein danke, ich möchte nicht mehr wie die alte Jasmin sein. Es darf nicht umsonst gewesen sein, was ich durchgemacht habe.
Der Mensch möchte stets ein Ziel vor Augen haben, auf welches hingearbeitet wird und somit jeder Prozess im Leben einen klaren Abschluss hat. In Bezug auf Krebs warten wir nach Jahren auf das Wort „geheilt“. Doch was ist, wenn es zur Abwechslung mal nicht um das Ende und ein Ziel geht, sondern vielmehr um die Krebsreise dazwischen, den Weg zu einem neuen Selbst.