Annette fragt… Anna Farris
Krebs – Mein Alltag, meine Normalität
(Diesen Text habe ich bereits vor zwei Wochen geschrieben. Ich komme erst jetzt dazu ihn hochzuladen)
Gestern hatte ich meine erste Infusion meiner zweiten Chemotherapie. Die Ärzte wollen es nicht deutlich sagen, aber meine Chancen stehen sehr schlecht. Ich hätte gerne die geplante Therapie mit Sacituzumab Govitecan gemacht, aber keiner kann sagen ob mir das hilft. Es gibt einfach keine Daten zu meiner Situation. Wir probieren das jetzt also mit Chemo und eventuell mit Antikörpern und wenn alles nichts bringt wird die Chemotherapie angebrochen und es wird direkt operiert. Das wird sich so in 4-6 Wochen entscheiden. Die Therapie mit Sacituzumab Govitecan wird nach dem Ende dieser zweiten Standarttherapie wenn möglich angehängt.
Ich bin meistens sehr gelassen. Mein Leben, meine Zukunft, alles liegt in Scherben. Ich habe mich mit diesem Schicksal und vor allem mit der extremen Ungewissheit irgendwie abgefunden. Meine Diagnose jährt sich bald zum ersten Mal. Im besten Fall steht mir noch ein Jahr Therapie bevor. Man kann nicht jeden Tag vor Angst vergehen. Irgendwann wird der Krebs einfach Teil des Lebens. Genauso wie die Therapie und all die Beschwerden die all das mit sich bringt. Ein wichtiger und großer Teil, ein schwerer und angsteinflößender Teil, aber eben trotzdem “normal”.
Spätestens wenn die zweijährige Tochter beim Arzt spielen Ports transplantierten will oder mich fragt ob ich nicht langsam los müsse zur Chemo, hat der Krebs Einzug in unsere Normalität erhalten. In unserer aller Alltag gehört der Krebs inzwischen dazu. Kaum vorstellbar, ihn eines Tages wieder hinter sich zu lassen.
Ich plane und hoffe weiter für die Zukunft. Noch ist nicht aller Tage Abend und ich will leben. Ich möchte Medizin studieren. Im letzten Jahr habe ich unendlich viel gelesen, mit Ärzten diskutiert und mir einen Haufen Wissen und Informationen angeeignet. Desto mehr ich lerne über den menschlichen Körper und über die Wirkweisen von Therapien, desto mehr will ich wissen, desto deutlicher wird mir was ich alles nicht weiß. Immer öfter komme ich an Punkte an denen ich merke, dass ich mir das Wissen das ich suche nicht einfach im Internet zusammentragen kann.
Ich will studieren. Zum Wintersemester 2021/22 werde ich mich bewerben. Meine Therapie wird noch lange nicht fertig sein, meine Zukunft mehr als unsicher, aber ich möchte dem Krebs nicht ewig so viel Raum geben.
Heute sitze ich hier, das Kortison macht mich unruhig und hält mich wach, es schwemmt mich auf und lässt meine Haut rot und ungesund aussehen. Ich bin müde und fühle mich ein wenig betrunken. Würde mich jemand fragen wie es mir geht würde ich sagen “gut”. An Zustände wie diesen bin ich längst gewöhnt.
Immer mehr muss ich mich damit befassen, dass ich meinen Partner und meine Tochter vielleicht zurücklassen muss. Unsere finanzielle Situation ist schwierig. Ich bin aus gesundheitlichen Gründen früh Mutter geworden. Ein paar Jahre kämen wir schon mit einem Gehalt über die Runden dachten wird uns. Keiner hätte gedacht, dass ich vielleicht niemals ein Gehalt einbringen kann. Es ist eine furchtbare Vorstellung die Menschen die ich am meisten liebe nicht nur in Trauer, sondern auch in finanzieller Not zurückzulassen. Als Krebskranke in Therapie bekomme ich bestenfalls Arbeitslosengeld 2. Selbst das ist schwierig, weil ich “dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehe”. Für eine Berentung müsste ich einen Mindestzeitraum rentenversichert erwerbstätig gewesen sein. Ein echtes Dilemma wenn man so früh so krank wird. Nun werde ich vom Staat behandelt wie eine Arbeitslose. Geldgeschenke darf ich nicht bekommen. Ich möchte unser Gesundheitssystem eigentlich nicht kritisieren. Es ist sicher eines der besten, aber doch hat es große Defizite. Eine Krebserkrankung geht mit Lohneinbußen und hohen Extraausgaben einher. Das finde ich mehr als unfair und einer Solidargemeinschaft nicht würdig. Das Menschen deren Tod so greifbar nahe ist vielleicht Pläne und Wünsche haben, die sie sich mit Arbeitslosengeld 2 nicht erfüllen können und dass selbst Verwandte oder gute Freunde kaum eine Reise oder ähnliches finanzieren dürfen finde ich unmöglich. Dass es mir nicht möglich ist meine neue Brille zu bezahlen setzt dem ganzen die Krone auf.
Doch abseits all dieser Probleme, bürokratischen Hürden und dem ständigen Wechsel zwischen guten Nachrichten und verheerenden Nachrichten, ist bei uns immer noch alles ganz normal.
Wir unterhalten uns über normale Dinge und machen (soweit es Corona zulässt) normale Dinge. Ich backe gerade einen Hefekranz, meine Freund spielt an seiner Switch. Unsere Tochter ist mit meiner Schwester unterwegs.
Alles ganz normal. Diese Normalität ist so banal und manchmal wirkt sie so absurd, so unwichtig, dass sie mich fast verrückt macht. Und dann sieht und hört man all die Menschen um einen herum. Jeder einzelne hat große Probleme. Für jeden einzelnen sind die eigenen die größten. Und zwischen all diesen Problemen, die sich oft lächerlich anhören in meinen Ohren, findet sich eine große Wahrheit: Ich bin es die Krebs hat. Ich werde wahrscheinlich daran sterben. Für die anderen wird das Leben weiter gehen. Ohne mich.