Unter dem Motto „talk about cancer“ beschäftigen wir uns mit den vielen Facetten einer Krebserkrankung.hello@kurvenkratzer.at

Lobektomie – von wegen keine Einschränkungen

Stell dir vor, du hast Lungenkrebs. Zum Glück ist der Tumor noch sehr klein und daher operabel. Mit deinen 44 Jahren bist du deutlich jünger als durchschnittliche Lungenkrebs-Erstdiagnostizierte. Du bist fit und dynamisch, viel unterwegs und auch sportlich aktiv. Beste Voraussetzungen für eine Lungen-OP.

Bereits vor dem Eingriff suchst du verzweifelt nach Infos. Was erwartet dich nach der Operation? Auf welche Einschränkungen musst du dich langfristig einstellen? Bei deiner Recherche findest du dazu wenig Konkretes. Nur die eine oder andere Äußerung von Experten, zum Beispiel von einem Chefarzt im Bereich Onkologie. Er sagt: „Der Eingriff schränkt weder die körperlichen Funktionen noch die Lebensqualität ein.“ So liest du es häufiger und exakt so formuliert es auch Dr. Hojski vom Tumorzentrum am Unispital in Basel in einem Interview auf lebenmitkrebs.ch vom 28. Oktober 2021.

Zum Glück befindest du dich chirurgisch in den besten Händen, wirst nach neuesten Standards minimal-invasiv im Schnellschnitt-Verfahren operiert. Aber du verlierst mit einem Lungenlappen etwa ein Fünftel deines gesamten Lungengewebes. Oder anders ausgedrückt: etwa einen Liter. Kein Problem, denkst du, die Schmerzen und auch die Atemeinschränkungen sind ja nur zeitweise ein Problem. Du wirst sicher wieder die Alte. Steht ja schließlich zigfach so im Netz.

Leben mit Behinderung

Drei Tage nach der OP sitzt dann plötzlich eine Frau vom Sozialdienst an deinem Bett. Mit Anträgen für eine Anschlussheilbehandlung, übergangsweise häusliche Pflege – und für einen Schwerbehindertenausweis. Im Ernst? Obwohl es doch, laut Experten, gar keine Einschränkungen gibt? Die Diagnose sitzt dir noch spützbübisch im Nacken, nun bist du ein weiteres Mal schockiert.

Wer in Deutschland nach einer bösartigen Tumorerkrankung seinen Grad auf Behinderung feststellen lässt, wird häufig pauschal mit einem 50-prozentigen Grad der Behinderung (GdB) eingestuft, zunächst begrenzt auf wenige Jahre. Denn, so heißt es in dem Schreiben, der Fortgang der Erkrankung sei ja noch nicht klar. Sprich: Selbst wenn du als krebsfrei entlassen wirst, bist du noch lange nicht aus dem Schneider. Als „geheilt“ giltst du erst nach 5 Jahren. Erstmal heißt es nachsorgen, regenerieren und hoffen.

In Fällen wie meinem, erklärt mir wenige Wochen später meine behandelnde Ärztin während der Reha, sei ein GdB von 70 oder 80 Prozent die Regel, je nach Amt. Aufgrund der weiteren Folgen des Eingriffs. Ach, tatsächlich? Obwohl der doch „weder die körperlichen Funktionen noch die Lebensqualität“ einschränkt? Eiderdaus. Aber genau so kommt es dann auch, mein GdB liegt derzeit deutlich über 50 Prozent.

Folgen für den Arbeitsmarkt

Nun, ich bin also geneigt, dem Herrn Dr. zu widersprechen. An dieser Stelle lohnt sich ein Blick in den Reha-Abschlussbericht zum Thema Arbeitsbelastung. Hier finden sich zwei unterschiedliche Bewertungen, nämlich die kurzfristige Belastbarkeit und die für den langfristigen Arbeitsmarkt. Die kurzfristige Belastbarkeit ist natürlich sehr gering. Erstmal muss alles ausheilen, du musst neu atmen lernen und dein Herz-Kreislauf-System muss sich komplett umstellen, denn plötzlich erhält dein Herz pro Schlag weniger Energie als gewohnt.

Aber auch „für den langfristigen Arbeitsmarkt“, heißt es da, werde ich nur leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ausführen können. Handlungen wie ständiges Treppensteigen oder auf Leitern klettern, ebenso wie das Heben größerer Lasten, sollte ich bleiben lassen. Von Allergenen habe ich mich bestmöglich fernzuhalten. Das gilt zum Beispiel für Backstuben, in denen für gewöhnlich Mehlstaub zirkuliert, der die Atemwege extrem reizen kann. Und für all das hat mein jeweiliger Arbeitgeber natürlich Sorge zu tragen.

Achja, und der Vollständigkeit halber: Falls ich irgendwann mal wieder tauchen möchte, dann ist das laut Entlassungsschreiben „nur mit Einwilligung eines Taucharztes“ möglich. Welch ein Glück, dass ich weder Berufstaucherin noch Leistungssportlerin bin, nicht mal Kreisliga, sonst hätte ich jetzt echt ein Problem. Aber auch als Stromableserin, die unter Zeitdruck täglich zahlreiche Stockwerke erklimmen muss, oder zum Beispiel als Bäckerin könnte es knifflig werden. Wir erinnern uns: „Der Eingriff schränkt weder die körperlichen Funktionen noch die Lebensqualität ein.“ Ja nee, is klar.

Mein neuer Alltag

Als ich das erste Mal nach der OP in meine Wohnung in den 4. Stock aufstieg, benötigte ich etwa zwischen 15 und 20 Minuten. Zugegeben, heute geht das etwas leichter. Ich komme in sehr langsamem Tempo und ohne Lasten einigermaßen gut oben an, oft pausiere ich im 3. Stock. Wenn ich mich anstrengen muss, weil ich Gepäck dabei habe, oder wenn ich versehentlich mein „altes“ Tempo gehe, klinge ich oben angekommen wie Emma, die Lokomotive. Ich keuche und bin außer Atem. Die OP ist heute 14 Monate her.

Das sind 14 Monate, innerhalb derer ich täglich gezielte Atemübungen ausgeführt und Spaziergänge absolviert habe. In denen ich regelmäßig Yoga mache und aufs Fahrradergometer steige. Meine körperliche Verfassung ist sehr gut – allerdings gemessen an meinen Einschränkungen, die es laut Dr. Hojski ja gar nicht gibt.

Kurz nach Weihnachten war ich mit einer Freundin wandern. Ein leichter Anstieg über etwa 20 bis 30 Minuten sorgte dafür, dass mein T-Shirt klitschnass an meinem Rücken klebte. Vor der OP kannte ich das so nicht. Und meine Freundin war darüber überrascht. Äußerlich sieht man mir die Einschränkungen schließlich nicht mehr an. Für mich war das nasse Shirt nichts Neues, auf dem Ergometer geht es mir auch bei moderater Belastung nicht anders. Das Herzchen pumpt nun eben ein wenig mehr als vorher.

Reaktion der Redaktion

Auf die doch sehr pauschale und in meinen Augen auch falsche Aussage angesprochen, reagiert die Lebenmitkrebs-Redaktion auf Instagram so:

„Wir haben dein Anliegen mit Dr. Holski rückbesprochen. Es kann sein, dass zusätzliche Faktoren eine Rolle spielen, weswegen jeder einzelne Fall mit der Patientin diskutiert werden muss. In der Medizin ist leider nichts 100% und leider kennen auch die Ärzt:innen nicht immer alle möglichen Nebenwirkungen. Die Aussage von Dr. Holski im Beitrag bezieht sich auf seine allgemeine Erfahrung mit dieser Behandlung und auf Resultate aus Studien.“

Interessant. Dr. Holski hat also allgemein die Erfahrung gemacht, dass es auf einen Liter mehr oder weniger nicht ankommt und das absolut gar keinen Unterschied macht? Spoiler: Um welche Studien es sich handelt und was genau dabei erhoben wurde, wird nicht näher erläutert. Stattdessen geht es weiter:

„In jedem Fall stellt sich die Frage, in welchem Zustand die Operation angetreten wurde, wie war die Leistung der Lunge und des Kreislaufsystems und viele weitere Faktoren. Hinzu muss man die genaue OP berücksichtigen (welcher Lappen, welche Technik, …) und was ist postoperativ passiert. All diese Faktoren spielen eine Rolle und sind in deinem Fall womöglich anders verlaufen als in den vielen Fällen, aus welchen die Statistik sich ergeben hat.“

Stimmt. Ich bin nämlich zum Zeitpunkt der OP etwa 26 Jahre jünger gewesen als der durchschnittliche Patient bei seiner Lungenkrebs-Erstdiagnose. Und berufstätig, sportlich aktiv sowie ständig auf Dienstreisen. Sicher macht das den entscheidenden Unterschied. Zu der OP-Methode zitiere ich gerne den behandelnden Oberarzt: „Frau Klepp, Sie haben Glück, so wie wir operieren derzeit nur zehn Kliniken bundesweit.“ Vermutlich liegt es also daran. Weiter im Text:

„Es tut mir leid, dass du nicht zu den Patientinnen gehörst, welche keine Auswirkungen auf die Lebensqualität haben. Wir wünschen dir viel Kraft, weiterhin an deiner Gesundheit zu arbeiten und hoffen, dass sich die Situation für dich verbessert.“

Keine Sorge, daran arbeite ich jeden Tag und bin auch guter Dinge. Und ich mache weiter, denn – wie mir andere Betroffene bestätigen – ist das jetzt eine Lebensaufgabe. Treppensteigen, so berichteten mir mehrere Frauen, die in meinem Alter eine Lobektomie erlebten, sei auch Jahre später ein Problem. „Mein Körper erinnert mich jeden Tag“, schrieb mir eine von ihnen, die heute extrem sportlich ist und seit einem Jahrzehnt noch wesentlich mehr Zeit in ihre Fitness investiert als die meisten anderen.

Das Gute ist natürlich, dass Menschen in der Regel nicht alle Kapazitäten ihrer Lunge ausschöpfen, sodass sie auch nach dem Verlust von Lungengewebe einiges kompensieren können. Meinen Lebensstil habe ich längst umgestellt und mache heute wesentlich häufiger Sport als vor der Diagnose. Sei’s drum. Still alive. Der Alltag ist jetzt eben anders, da stellst du dich drauf ein.

Mangelhafte Informationslage

Was mich allerdings ärgert, ist die mangelhafte Informationslage für Patient*innen wie mich, die Lungenkrebs im Frühstadium erleben. Was soll das? Zweifellos sind das Schnellschnitt-Verfahren und ein minimal-invasiver Eingriff grandiose medizinische Fortschritte. Kleine Schnitte heilen schneller und besser, klar. Ich bin froh, von diesen Methoden zu profitieren.

Aber, ganz ehrlich: Was weg ist, ist weg. Ich werde nie wieder eine vollständige Lunge haben. Und vor dem Hintergrund, dass das Lungenvolumen ab Anfang 20 ohnehin kontinuierlich abnimmt, wie ich erst kürzlich in dem Buch „Die atemberaubende Welt der Lunge“ von Kai-Michael Beeh lernte, haben ich und andere Betroffene dann eben ein wenig mehr dagegen anzuarbeiten. Dafür leben wir, das tun wir gerne. Eine ehrliche Aufklärung im Vorfeld haben wir dennoch verdient, finde ich.

Was mich außerdem ärgert, sind Medien, die solche pauschalen Aussagen ungefragt übernehmen und Kritik von Betroffenen dann als Einzelfälle abtun. Der Gott in Weiß hat immer recht. Und wenn es bei mir anders war, dann entspreche ich eben nicht den allgemeinen Statistiken, sorry.

Bis heute ist das Interview nicht nachgebessert worden. Auf meine Frage, auf welche Studien sich der Interviewte bezieht, wurde mir nahegelegt, ihn selbst zu fragen. Es gibt demnach keinen Disclaimer und auch keinen Hinweis, was Dr. Hojski denn genau unter „Lebensqualität“ versteht.

Was Lebenqualität bedeutet?

Vielleicht sind in den bislang nicht näher benannten Studien ja sehr konkrete Fragen dazu gestellt worden, wie die Betroffenen heute ihren Alltag erleben? Und dass sie an sich ganz zufrieden sind, wurde dann pauschal und sinnentstellend zu „keine Einschränkung der Lebensqualität und der körperlichen Funktionen“ zusammengefasst. Who knows.

Mein bescheidenes journalistisches Handwerk, das ich im Laufe der Jahre als ausgebildete Redakteurin in der Fachpresse erworben habe, führte mich in wenigen Minuten zu der wissenschaftlichen Arbeit „Weiteratmen – weiterleben. Inwiefern beeinflussen physiotherapeutische Interventionen in der Rehabilitation die gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Patienten mit Lungenresektion bei nicht-kleinzelligem Bronchialkarzinom?“ von Cilgia Schatzmann, die sich mit dem Begriff Lebensqualität beschäftigt. Sie stellt fest:

„Die gesundheitsbezogene Lebensqualität [HRQoL] und die körperliche Belastbarkeit [KB] können bei Patienten mit nicht-kleinzelligem Bronchialkarzinom [NSCLC] nach erfolgter Lungenresektion reduziert sein.“

Und, Überraschung, es gibt gar keine klare Definition für Lebensqualität in der Medizin. Hurra. Der Begriff wird maximal schwammig angewendet.

Folgen falscher Berichterstattung

In meinen Augen führen solch pauschale Aussagen wie von Dr. Hojski zu den Folgen einer Lobektomie zu falschen Erwartungen. Sie lesen sich eher wie Werbebotschaften für eine bestimmte OP-Methode („Lobektomie, jetzt noch schmerzfreier. Schnippeldifix, merkste nix.“), denn als sachlich-differenzierte Information.

In meinem Fall haben mich die tatsächlichen Einschränkungen, die ich bis heute erlebe, zunächst ziemlich überrascht. Vielleicht geht es anderen ähnlich. Und ja, natürlich ist jeder einzelne Fall anders. Aber über die möglichen Folgen ehrlich aufzuklären, schmälert doch die chirurgische Leistung nicht! Was ist also das Problem?

Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt, der in der Berichterstattung berücksichtigt werden sollte: Betroffene haben Schwierigkeiten, in ihrem Umfeld und zum Beispiel einem Arbeitgeber gegenüber ernst genommen zu werden, wenn doch die „Experten“ sagen, es gebe keine Einschränkungen. Doch, die gibt es. Wie oft habe ich in den vergangenen Monaten gehört: „Man sieht es dir echt nicht mehr an.“ Das stimmt. Aber es liegt unter anderem auch daran, dass ich mein Verhalten in schwierigen Situationen anpasse.

Austausch unter Betroffenen

Betroffenen kann ich nur empfehlen, im Netz nicht alles für bare Münze zu nehmen und gegebenenfalls weitere Quellen zurate zu ziehen. Vor allem der Austausch mit anderen Betroffenen bringt dich oft weiter. Sie können dir schnell und zuverlässig sagen, auf welche Quellen Verlass ist, also welche Magazine, Websites und Blogs die notwendige Tiefe mitbringen, damit es dir weiterhilft.

Schade, dass in diesem konkreten Fall die (journalistische) Sorgfaltspflicht ein wenig beiseite geschoben worden ist. Wenigstens eine Richtigstellung in Bezug auf Einschränkungen hätte ich mir gewünscht und eine konkrete Benennung, was denn nun eigentlich mit Lebensqualität gemeint ist.

So, das musste ich mir jetzt einfach mal von der Seele schreiben. In der Hoffnung, dass sich andere Redaktionen früher oder später etwas ausführlicher mit den Folgen einer Lobektomie auseinandersetzen. Ehrlich, differenziert und lebensnah, sodass es Betroffenen wirklich weiterhilft.

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